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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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versuchte es zu identifizieren, gab es dann aber auf.
    »Ich weiß«, antwortete sie. »Aber du bekommst auch eine Menge dafür.«
    »Dich?«
    »Mich«, sagte Lena ruhig.
    Das Geräusch war lauter geworden, und nun erkannte Lena es auch: Es war das dumpfe Infraschall-Wummern eines näher kommenden Rotors, das ihr superfeines Gehör wahrnahm, lange bevor ein normaler Mensch das Geräusch gehört hätte. Ihr war klar, dass ihr höchstens noch zwei Minuten blieben. Was für eine erbärmliche Frist, um die Entscheidung über zwei Leben zu fällen!
    Louise wandte sich nun doch vom Fenster ab und sah sie an. Ihre Augen waren hart wie Stein.
    »Obwohl du es gar nicht willst?«
    »Ich habe dir gesagt, dass …«
    »… du mich liebst und er dir nichts bedeutet«, unterbrach sie Louise, »ich weiß. Was ich nicht weiß, ist, welche Lüge größer ist.«

    »Aber welche Wahl bleibt mir denn?«, sagte Lena verzweifelt. »Ich kann hierbleiben und dabei zusehen, wie er stirbt, oder dich begleiten, und er bleibt am Leben. Trifft es das ungefähr?«
    Louise tat so, als müsste sie über diese Worte nachdenken. Das Rotorengeräusch kam näher und musste wohl nun auch für menschliche Ohren hörbar sein, denn Lummer hob mit einem Ruck den Kopf.
    »Ja, das trifft es ungefähr«, sagte Louise schließlich. »Abgesehen davon, dass du mich dafür hassen wirst, ganz egal, wie ich mich entscheide, nicht wahr?« Sie lachte bitter. »Aber wenigstens kann ich mir aussuchen, warum du mich hasst. Das ist doch schon mal was.«
    Lena hätte lügen können, und Louise hätte es ihr vermutlich nicht einmal übel genommen, aber stattdessen sagte sie: »Ich würde es dich niemals spüren lassen, das schwöre ich dir.«
    »Nein, wie rührend«, spottete Louise. »Du würdest tatsächlich auf deine große Liebe verzichten und dein Leben an der Seite einer Frau verbringen, die du aus tiefstem Herzen hasst, nur um diesem kleinen Menschlein noch ein paar lächerliche Jahre zu schenken, die vorüber wären, noch bevor du auch nur Zeit gefunden hättest, diesen Entschluss zu bereuen? Wirklich, das nenne ich wahre Liebe!« Die Worte waren der pure beißende Hohn - aber da war auch etwas in ihrer Stimme, was ihnen den Großteil ihrer beabsichtigten Wirkung nahm und Lena verwirrte.
    Der Helikopter kam jetzt rasch näher, und Lummer richtete sich noch weiter auf und sah mit angestrengt gerunzelter Stirn zum Fenster hin. Ganz kurz meinte Lena ein Licht wahrzunehmen, das wie ein blasser suchender Finger über den Himmel tastete.
    Louise kam mit schnellen Schritten zu ihr, sank neben Tom auf die Knie und streckte die Hand nach seiner Stirn aus. Auf ihrem Gesicht lag ein grimmiger Ausdruck, und ihre Bewegungen
wirkten gehetzt; als wollte sie ihren Entschluss möglichst schnell in die Tat umsetzen, bevor sie Zeit fand, ihn zu bedauern. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich und wirkte dann plötzlich überrascht.
    »Aber das …«, murmelte sie.
    »Was?«, fragte Lena alarmiert.
    Statt zu antworten, zog Louise die Hand so abrupt zurück, als hätte sie zu spät gemerkt, dass sie sie auf eine glühende Herdplatte gelegt hatte, sah nun ganz eindeutig erschrocken aus und schüttelte den Kopf.
    »Nichts«, sagte sie. »Ich war nur …« Sie zwang sich zu einem nervösen Lächeln, das schneller erlosch, als es gekommen war. »Es ist doch nicht so schlimm, wie ich dachte. Er wird es überleben, keine Sorge.«
    Lena glaubte ihr kein Wort, und sie reagierte genauso wie die allermeisten, denen man versicherte, dass es keinen Grund zur Sorge gab: Sie war besorgt. Louise verschwieg ihr etwas. Etwas sehr Wichtiges.
    Aus dem Helikoptergeräusch wurde nun ein Dröhnen, das immer mehr an Lautstärke gewann und schließlich die Fensterscheiben vibrieren ließ. Ein grelles Licht strich über das Glas und erlosch, noch bevor Lena geblendet die Augen schließen konnte. Auf einmal klingelte das Telefon. Louise beachtete es nicht, sondern schloss erneut die Augen, legte Tom die flache Hand auf die Stirn und konzentrierte sich ungefähr eine Sekunde lang, bevor sie sie wieder zurückzog.
    »War das … alles?«, murmelte Lena verwirrt.
    »Ich kann gern noch ein paar Zaubersprüche aufsagen und dabei auf einem Bein herumhüpfen, wenn dir dabei wohler ist«, antwortete Louise. »Aber besser wird es davon auch nicht.« Ihr flapsiger Ton wirkte genauso falsch wie die gewollte Bosheit zuvor. Da war etwas, was Louise zutiefst erschreckt hatte, das spürte Lena.

    »Dann bin ich jetzt wohl

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