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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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Rasch schlüpfte Lena hindurch, drückte die Tür hinter sich ins Schloss und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ihre Gedanken überschlugen sich, und ihr Herz raste mit einem Mal, als wollte es zerspringen. Tom? Hier? Das konnte unmöglich ein Zufall sein!
    Ein Teil von ihr (derjenige, dem diese Vorstellung durchaus geschmeichelt hätte) versuchte ihr einzureden, dass der gut aussehende Soko-Beamte noch ein Hühnchen mit ihr zu rupfen hatte, aber das war natürlich Unsinn. Polizisten von seinem Kaliber hatten ganz bestimmt etwas Wichtigeres zu tun, als nach einer kleinen Taschendiebin zu suchen: also doch Zufall.
    Aber ein sehr, sehr sonderbarer …
    Sie versuchte den Gedanken abzuschütteln (es gelang ihr nicht), stieß sich von der geschlossenen Tür ab und ging zum Waschbecken, um sich auf dem goldgeäderten Granit abzustützen und ihr müdes Spiegelbild zu betrachten.
    Sie erschrak beinahe vor sich selbst. Ihr Gesicht wirkte eingefallen und grau, und es kam ihr vor, als wäre sie zehn Jahre älter geworden, seit sie das letzte Mal in einen Spiegel gesehen hatte. An ihrem Hals pochte eine Ader.
    »Du selbst kannst es nicht sehen«, sagte eine Stimme hinter ihr.
    Lena fuhr wie elektrisiert zusammen und starrte in den Spiegel. Sie war allein. Aber sie hatte die Stimme gehört! Und es war nicht irgendeine Stimme gewesen, sondern Louises, und sie spürte ihre Nähe mit körperlicher Intensität, sie hörte das Rascheln ihres Kleides und roch ihren Duft.
    Zwei, drei endlose schwere Herzschläge lang stand sie einfach nur da, starrte den Spiegel an, in dem der leere Raum hinter ihr zu sehen war, und fragte sich in dieser Zeit allen Ernstes, ob sie den Verstand verloren hatte, dann raffte sie all
ihren Mut zusammen, drehte sich mit einem Ruck herum - und erstarrte.
    Louise stand so dicht hinter ihr, dass sich ihre Gesichter beinahe berührten. Es war völlig unmöglich, dass sie hereingekommen war, ohne dass sie etwas gehört oder gesehen hatte, und sie war auch im Spiegel nicht zu sehen gewesen - aber jetzt stand sie vor ihr: groß, wunderschön und lähmend allein durch ihre bloße Gegenwart.
    »Deine Augen sind blind dafür, obwohl dich jeder deiner Blicke verrät«, fuhr Louise fort.
    »Wovon … redest du?«, stammelte Lena. Sie konnte nicht mehr denken. Alles war … falsch.
    »Von dem, was in dir steckt«, antwortete Louise lächelnd. »Etwas Seltenes und sehr Besonderes, Außergewöhnliches.«
    Ihre Fingerspitzen fuhren so zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings über Lenas Lippen, verharrten für einen winzigen Moment auf ihrem Mundwinkel und setzten dann ihren Weg am Kinn und dem Hals hinunter fort, bis sie schließlich auf ihrer pochenden Halsschlagader liegen blieben. Lena hob die Hand, um Louises Arm wegzuschieben, aber auch das war ein Fehler, denn die Berührung war wie ein elektrischer Schlag, der durch jeden einzelnen Nerv in ihrem Körper schoss und sie aufstöhnen ließ; allerdings nicht vor Schmerz, sondern dem genau gegenteiligen Empfinden.
    »Was … soll das?«, fragte sie mühsam. »Was willst du von mir? Wer bist du?«
    »Ich glaube, du weißt genau, was ich von dir will, Liebes«, antwortete Louise. »Und wer ich bin?« Sie lächelte geheimnisvoll. »Ich glaube, das habe ich schon vor langer Zeit vergessen. Aber ich kann dir sagen, was ich nicht bin. Ein Mensch.«
    »Ja, sicher«, murmelte Lena. Sie brachte irgendwie doch die Willensstärke auf, Louises Hand wegzuschieben, und drehte sich mit einem Ruck zum Spiegel um.

    Kein Mensch, ha, ha .
    Sie war nicht nur kein Mensch, sie war gar nicht da. Der leere Raum im Spiegel bewies ihr, dass sie nach wie vor allein war - und das war sie auch die ganze Zeit über gewesen! Offenbar war sie doch weiter mit den Nerven runter, als ihr bisher klar gewesen war. Entweder das, oder Engelsköpfchen hatte ihr etwas in den Drink gekippt, um sie kirre zu machen. Wer sagte denn, dass Holden der Einzige war, der vor nichts zurückschreckte, um sie gefügig zu machen?
    »Kein Mensch, wie?«, sagte sie spöttisch.
    »Richtig«, antwortete Louises Stimme hinter ihr. »Genauso wenig wie du.«
    Etwas raschelte. Lena spürte abermals eine Bewegung hinter sich und roch Louises betörendes natürliches Parfüm, aber da war plötzlich noch etwas, etwas Raubtierhaftes und Wildes, das alle Alarmglocken in ihr zum Läuten brachte und sie veranlasste, sich wider besseres Wissen sehr schnell wieder umzudrehen.
    Sie war schnell, aber nicht annähernd schnell genug.

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