Wir sind die Nacht
nur das Stimmengemurmel hören, sondern die Worte auch ganz deutlich verstehen konnte, die hinter den geschlossenen Türen gesprochen wurden.
Was? Geschah? Mit? Ihr?
Sie rannte das letzte Stück hinauf, stürzte regelrecht durch die Wohnungstür und blieb eine geschlagene Minute lang mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem dahinter stehen, um zu lauschen.
Nichts rührte sich.
Natürlich rührte sich nichts. Was hatte sie denn erwartet?
Lena lächelte über ihre albernen Gedanken. Und trotzdem. Niemand war hinter ihr her, das mochte stimmen, aber zugleich wusste sie, dass dort draußen dennoch etwas war, etwas Feindseliges und sehr Gefährliches.
Diesen Gedanken einfach wegzulächeln gelang ihr nicht mehr.
Die Tür hinter ihr war zwar nicht nennenswert stabiler als ein bedruckter Pappkarton, aber sie wandte sich trotzdem um und drehte den Schlüssel herum. Überraschenderweise fühlte sie sich danach tatsächlich ein wenig sicherer.
Ihr Hals schmerzte wieder, und nun machten sich auch die verkrampften Muskeln im Nacken und in den Schultern erneut bemerkbar. Lena hatte irgendwie Angst davor, in den Spiegel zu sehen, aber sie wusste zugleich auch, dass sie keinen ruhigen Augenblick finden würde, bevor sie es nicht getan hatte. Außerdem fühlte sie sich nicht nur schmutzig. Sie war es.
Um ins Bad zu kommen, musste sie das winzige Wohnzimmer durchqueren. Das Fenster ging nach Westen hinaus, so dass die heraufziehende Dämmerung das schwarze Rechteck in der Dachschräge noch nicht erreicht hatte. Der Fernseher lief mit abgeschaltetem Ton und erfüllte das Zimmer mit einem unwirklichen blauen Flackerlicht, in dem sie nicht nur das Chaos auf dem überladenen Tisch und das halbe Dutzend leerer Bierflaschen auf dem Boden sehen konnte, mit dem sich ihre Mutter in den Schlaf getrunken hatte, sondern auch sie selbst. Sie war wie üblich in ihren Kleidern auf der Couch eingeschlafen, wo sie auf der Seite liegend mit offenem Mund schnarchte. Das Zimmer stank nach kaltem Zigarettenrauch, schalem Bier und altem Schweiß. Weder an diesem Anblick noch an dem Gestank war irgendetwas Außergewöhnliches, aber Lena konnte sich nicht erinnern, es jemals als so abstoßend empfunden zu haben.
Sie ging weiter, schob die Tür des winzigen Bades hinter sich zu - ein Schloss gab es nicht, aber betrunken, wie ihre Mutter war, würde sie ohnehin nicht hereinkommen - und hob ganz automatisch die Hand zum Lichtschalter, wagte es dann aber nicht, die Bewegung zu Ende zu führen.
Was sie in dem halb blinden Spiegel über dem Waschbecken sah, das war auch so schon schlimm genug.
Ihr Haar sah aus, als hätte jemand ihren Kopf als Wischmopp benutzt - und zwar nachdem sie mit nassen Fingern in eine Steckdose gegriffen hatte. Ihr Haar starrte vor Schmutz und pappte in klebrigen Strähnen am Kopf. Ihr Gesicht und die nackten Schultern und Oberarme waren verdreckt, und Ellbogen und Hände waren aufgeschürft und kein bisschen sauberer - eine kleine Erinnerung daran, dass ein Hechtsprung eher in ein Schwimmbad gehörte als auf einen matschigen Parkplatz. Mittlerweile tat ihr jede noch so winzige Bewegung weh; sogar wenn sie sich gar nicht bewegte.
Lena trat dichter an den Spiegel heran und hielt dem unschönen Anblick noch einige weitere Sekunden stand, bevor sie das kalte Wasser aufdrehte (warmes gab es nur, wenn man den aus der Eisenzeit stammenden Boiler eine halbe Stunde lang mit Kohle, Holz oder auch einem Stapel unbezahlter Rechnungen anheizte) und sich mit zusammengebissenen Zähnen zwang, die Hände und Arme zu waschen.
Die dunkelrote Brühe, die in den Ausguss lief, weckte sofort wieder eine leise Übelkeit in ihr, aber der Anblick ihrer sauberen Hände und Arme war auch nicht viel angenehmer. Handballen und Ellbogen waren zerschrammt und blutig verschorft, und den Schnitt in ihrer rechten Hand wagte sie erst gar nicht anzusehen.
Vielleicht war der Anblick ihrer Knöchel das Allerschlimmste. Über Zeige- und Mittelfinger (beider Hände) war die Haut aufgeplatzt, und auch unter den Fingernägeln waren braunrote
Ränder zu sehen, von denen sie nur hoffte, dass es lediglich Schmutz war.
Aber sich selbst zu belügen war noch nie ihr Ding gewesen, und sie hatte sich in ihrer Zeit in staatlicher Obhut weiß Gott oft genug ihrer Haut wehren müssen, um zu wissen, was dieser Anblick bedeutete.
Doch wieso konnte sie sich an rein gar nichts erinnern?
Vielleicht, weil gar nichts passiert ist, redete sie sich ein. Für ihre
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