Wir sind die Nacht
konnte, noch am Leben zu sein.
Aber das war egal. Alles, was jetzt zählte, war, nach Hause zu kommen, bevor es hell wurde.
Der Weg war nicht mehr besonders weit. Auch wenn sie scheinbar ziellos durch die Stadt geirrt war, hatte etwas in ihr dennoch den Rückweg gefunden; wie vom Instinkt einer Katze gelenkt, der sie selbst in unbekanntem Terrain sicher nach Hause finden ließ. Sie musste sich beeilen. Schon in wenigen Minuten würde die Sonne aufgehen, und tief in ihr war das sichere Wissen, dass sie dann nicht mehr hier draußen sein sollte.
Obwohl ihr mittlerweile jeder Schritt schwerfiel, ihr Hals und ihre Nackenmuskeln schmerzten und sie aus irgendeinem Grund immer schlechter sehen konnte, beschleunigte sie ihre Gangart, um das letzte Stück zurückzulegen - noch die Straße hinunter und dann nach links, und sie hatte die jämmerliche Bruchbude erreicht, in der ihre Mutter und sie hausten. Sie beschleunigte noch einmal, stolperte prompt über ihre eigenen Füße und fand gerade noch an einem geparkten Wagen Halt, bevor sie stürzen konnte. Ärgerlich auf sich selbst stemmte sie sich wieder hoch und ging weiter, blieb gleich darauf aber schon wieder stehen, weil ihr war, als ob sie nicht nur zufällig
gestolpert wäre. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, aber es dauerte noch einmal eine Sekunde, bis sie wirklich begriff, was.
Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite befand sich der Geldautomat, der gestern Abend die Karte des Russen geschluckt hatte. Und nur ein kleines Stück dahinter parkte ein schwarzer Wagen am Straßenrand, der nicht nur nicht in eine Gegend wie diese gehörte, sondern ihr auch auf beunruhigende Weise bekannt vorkam: ein schwarzer Jaguar, hinter dessen beschlagenen Scheiben sich zwei dunkle Umrisse abzeichneten. Die rote Spitze einer Zigarette glomm in regelmäßigen Abständen auf, und erst jetzt, als sie genauer hinsah, bemerkte sie die grauen Schwaden, die aus dem Auspuff quollen. Offensichtlich ließen die Insassen den Motor laufen, damit die Heizung funktionierte.
Lena war alarmiert, und für einen kurzen Moment war alles vergessen, selbst der pochende Schmerz in Hals und Nacken. Es gab keinen Zweifel - es war derselbe schwarze Jaguar, der gestern Nachmittag vor dem anderen Bankautomaten gestanden hatte.
Aber das war unmöglich! Russenmafia hin oder her, sie konnten nicht wissen, dass sie hier gewesen war, um Boris’ Konto noch ein bisschen zu strapazieren!
Ein plötzlicher Windstoß ließ sie frösteln. Sie strich sich eine Strähne ihres blond gefärbten Haares aus dem Gesicht, und als ihr Blick dabei in den Himmel fiel, sah sie einen nun deutlich erkennbaren hellen Streifen im Osten. Die Dämmerung hatte mit Macht eingesetzt, und sie musste verdammt noch mal machen, dass sie von der Straße kam, bevor es tatsächlich hell wurde und etwas geschah, von dem sie zwar keinen Schimmer hatte, was es war, dafür aber umso mehr, dass es schrecklich sein würde. Ihr blieben bestenfalls noch ein paar Minuten.
Dennoch machte sie kehrt, ging den Weg zurück, den sie
gerade gekommen war, und spurtete los, kaum dass sie um die Ecke gebogen war.
Sie schaffte es knapp. Das erste schmuddelige Grau berührte gerade den Straßenbelag hinter ihr, als sie gänzlich außer Atem die Haustür erreichte. Sie warf sich hindurch und stolperte noch ein halbes Dutzend Treppenstufen hinauf, bevor ihr auffiel, dass sie das Licht nicht eingeschaltet hatte.
Seltsamerweise war es nicht nötig. Hier drinnen herrschte zwar noch immer finsterste Nacht, aber trotzdem reichte ihr der dunkelgraue Schimmer, der durch die schmutzigen Fenster hereinfiel, vollkommen aus, um sich zu orientieren. Sie verzichtete darauf, das Licht einzuschalten, wich den Pfützen staubgrauer Helligkeit unter den Fenstern instinktiv aus und bewegte sich dennoch mit traumwandlerischer Sicherheit weiter nach oben. Wieso ihr das gelang, darüber wollte sie gar nicht erst nachdenken. Die Antwort hätte ihr Angst gemacht.
Trotz der frühen Stunde drangen durch die Hälfte der Wohnungstüren schon Musik und Stimmen. Lena hatte nie begriffen, warum Leute, die keiner geregelten Arbeit nachgingen (was niemand in diesem Haus tat), mit den Hühnern aus dem Bett krochen. Sie selbst hätte gut auf den Tag verzichten und erst mit der Abenddämmerung aufstehen können.
Aber vielleicht dachte sie diesen Gedanken nur, um sich von einer anderen und mindestens genauso beunruhigenden Frage abzulenken, nämlich der, wieso sie eigentlich nicht
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