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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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klappte sie auf und nahm einen in Plastik eingeschweißten Führerschein heraus, um das Foto gründlich mit dem Gesicht seines Gegenübers zu vergleichen. »Ja, das scheint tatsächlich Ihre Brieftasche zu sein«, sagte er schließlich und gab sie ihm zurück. »Wenn Sie bitte den Inhalt kontrollieren und sich davon überzeugen würden, dass nichts fehlt? Nur damit es später nicht zu Missverständnissen kommt.«
    Der Armani-Träger tat rein gar nichts dergleichen, sondern starrte nur abwechselnd ihn, die Brieftasche in seiner Hand und Lena an.
    »Aber …«, stammelte er. »Aber wie …?«
    Genau dasselbe fragte sich Lena auch. Wie um alles in der Welt hatte er das geschafft? Sie hatte die Tasche keine Sekunde aus den Augen gelassen, und niemandem - niemandem! - gelang es, sie zu bestehlen, ohne dass sie es merkte!
    »Einer meiner Männer hat sie draußen vor dem Eingang gefunden«, sagte der Türsteher. »Sie muss Ihnen wohl aus der Tasche gerutscht sein, ohne dass Sie es gemerkt haben. Sie sollten besser auf Ihr Eigentum achtgeben.«
    »Ja, das … scheint mir auch so«, murmelte der andere hilflos und ließ die Brieftasche dann blitzschnell in der Jackentasche verschwinden.

    »Und es …« Er rang einen Moment mit sich selbst, musste sich dann sichtlich überwinden, um Lena in die Augen zu sehen, und fügte unbehaglich hinzu: »Es tut mir leid. Da habe ich wohl ein bisschen überreagiert. Bitte entschuldige.«
    Davon abgesehen, dass Lena nicht daran dachte, diesem aufgeblasenen Idioten die Absolution zu erteilen, war sie viel zu perplex, um überhaupt zu reagieren. Sie starrte ihn nur an, und nach einem kurzen Zögern fuhr er schließlich auf dem Absatz herum und floh aus dem Club.
    Der Türsteher sah ihm noch einen Moment lang kopfschüttelnd nach und wandte sich dann mit einem tiefen Seufzer an Lena. »Leute gibt’s …«
    »Ja, das … finde ich auch«, murmelte Lena hilflos. Sie begriff immer weniger, was hier geschah. Aus ihrem unguten Gefühl war inzwischen etwas wirklich Körperliches geworden. Sie hatte immer mehr Mühe, auch nur zu atmen, und wo ihr Magen sein sollte, war nur noch ein Eisklumpen mit scharfen Kanten.
    »Vielen Dank auch. Der Bursche hätte wirklich unangenehm werden können. Na ja, ich glaube, ich muss jetzt auch allmählich …«
    »Aber nicht doch, Liebes«, unterbrach sie der Türsteher lächelnd, aber zugleich in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Er rührte keinen Muskel, um ihr den Weg zu vertreten, aber das war auch nicht nötig. »Du willst doch nicht schon gehen? Die Nacht ist noch jung. Und außerdem will die Chefin dich sehen.«
    »Die … Chefin?«
    »Ich soll dich zu ihr bringen. Sie möchte was mit dir trinken … glaube ich. Du solltest dich geehrt fühlen, Kleines. Die Hälfte der Typen hier drinnen würde sich die rechte Hand abhacken lassen, um mit ihr an der Bar sitzen zu dürfen.«
    »Widerstand zwecklos?«, sagte Lena.
    »Vollkommen«, bestätigte er. »Komm, ich bringe dich zu ihr.«

6
    Wenn sie gedacht hatte, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte, dann war das nicht der erste Irrtum dieses Tages.
    Die Chefin erwartete sie an der Bar, wenn auch nicht an der, die sie vorhin von der Tanzfläche aus gesehen hatte. Vielmehr dirigierte ihr Führer sie eine schmale, mit einer roten Samtkordel abgesperrte Treppe zum Rand des ehemaligen Schwimmbeckens hinauf, wo es eine zweite, kleinere Bar in einem abgesperrten VIP-Bereich gab. Die Besitzerin des Clubs saß mit dem Rücken zu ihr, und der stachelige Eisklumpen in Lenas Magen sprang mit einem einzigen Satz bis in ihren Hals hinauf und schnürte ihr endgültig den Atem ab, als sie sah, dass es niemand anderes als das blonde Lockenköpfchen war, das sie gerade um den größten Teil seiner Barschaft erleichtert hatte.
    »Setz dich, Liebes«, sagte sie, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Du musst doch vor Durst sterben. Ich jedenfalls könnte die ganze Bar leer trinken.«
    Lena blieb mit jagendem Puls stehen, und die Blonde drehte sich nun doch auf ihrem Hocker um und lächelte sie an.
    »Nun mach schon. Keine Angst, ich beiße nicht … Jedenfalls nicht sofort und nicht jeden.«
    Lena hörte die Worte kaum. In die Augen der jungen Frau zu blicken war, wie die Sonne mit bloßen Händen zu berühren. In diesem Blick war etwas … Unbeschreibliches. Gefrorene Zeit, die seit Äonen darauf wartete, zu erwachen und jeden zu
verbrennen, der leichtsinnig genug war, ihr zu nahe zu kommen. Nach einer Sekunde, die ihr zu einer

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