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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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Etwas packte sie mit einer Kraft, wie sie kein Mensch haben konnte, riss sie herum und zwang ihren Kopf zur Seite. Lena bereitete sich innerlich darauf vor, Louise kräftig in die Lippen zu beißen, wenn sie tatsächlich auf die Idee kommen sollte, sie zu küssen; und gleichzeitig stellte sie sich selbst die absurde Frage, ob sie als Frau eigentlich eine Frau wegen versuchter Vergewaltigung anzeigen konnte, wenn das hier vorüber war.
    Louise versuchte sie nicht zu küssen, und sie kam somit auch nicht in die Verlegenheit, einem anzüglich grinsenden Polizeibeamten ihr Anliegen vortragen zu müssen. Louises Ziel war nicht ihr Mund, sondern ihre Halsschlagader, und sie presste auch nicht die Lippen auf ihre Haut, um ihren süßen Geschmack zu trinken, sondern grub zwei nadelspitze Zähne tief in ihr Fleisch.
    Der Schmerz war grässlich, zwei weißglühende Dolche, die sich tief durch ihr Fleisch bis zum Rückgrat zu bohren schienen,
um es zur Gänze in Brand zu setzen - aber das alles schien nichts gegen das zu sein, was Louise geschah.
    Es war, als hätte sie in ein Stromkabel gebissen. Eine Mischung aus einem Schrei und einem schlangengleichen Zischen kam über ihre Lippen, die plötzlich voller frischem hellrotem Blut waren - Lenas Blut! -, und sie taumelte nicht etwa, sondern flog regelrecht zurück, prallte an die gegenüberliegende Wand, ohne dass die Füße den Boden auf dem Weg dorthin berührt hätten, und zertrümmerte das massive Bidet, als sie zu Boden fiel.
    Lena schlug entsetzt die Hand gegen den Hals, fühlte warmes Blut, das aus zwei winzigen punktförmigen Stichen direkt über ihrer Halsschlagader lief, und hätte geschrien, hätte ihr das Entsetzen nicht so sehr die Kehle zugeschnürt. Zitternd stand sie einen Moment lang da, starrte die reglose Gestalt an, die inmitten eines Chaos aus scharfkantig zerbrochenen Porzellanscherben dalag und sich nicht rührte, und drehte sich schließlich wieder zum Spiegel um.
    Alles war da: ihr eigenes, kreidebleiches Gesicht, die beiden winzigen Stiche an ihrem Hals, aus denen zwei dünne rote Rinnsale liefen, und das zertrümmerte Bidet. Nur Louise fehlte. Wo sie hätte liegen müssen, befand sich nichts als ein trockener Fleck von ungefähr menschlichen Umrissen, den das auslaufende Wasser aus irgendeinem Grund nicht erreichte.
    Und das war eindeutig zu viel.
    Lena fuhr auf dem Absatz herum und stürzte davon, so schnell sie nur konnte.

7
    Lena hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie sie den Weg zurück gefunden hatte, wie lange sie gebraucht und wen sie unterwegs getroffen hatte. Die Nacht und der Rückweg hatten sich gegen sie verbündet und waren zu einem Albtraum geworden, der einfach keinen Sinn ergeben und auch kein Ende nehmen wollte. Irgendwann nahm die Zahl der Autos auf den Straßen wieder zu, und sie erinnerte sich (im Nachhinein) an ein paar übermüdete Gesichter, die sie verdutzt durch Windschutzscheiben oder aus den Häuschen der Bushaltestellen heraus angegafft hatten, und nicht sehr viel später zeigte sich im Osten der erste Schimmer von Grau am Himmel.
    Es war nach Mitternacht gewesen, als sie CHARLOTTES CLUB betreten hatte, und nun stand die Dämmerung vor der Tür. Sie war tatsächlich die ganze Nacht unterwegs gewesen, und sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich im Einzelnen an kaum eine dieser zahllosen Minuten erinnern. Irgendwie war es ihr gelungen, aus dem Club hinauszukommen. Sie erinnerte sich vage, auf dem Parkplatz gestürzt zu sein und sich Hände und Knie aufgeschürft zu haben, aber das war auch schon alles.
    Vielleicht war es auch gut so. Was immer hinter ihr lag, war bestimmt kein Spaziergang gewesen. Ihr Kleid war hoffnungslos verdreckt und an mehreren Stellen zerrissen, und an ihren Händen und Ellbogen klebte Blut, von dem sie sich nicht sicher
war, ob es sich wirklich um ihr eigenes handelte. Da waren ein paar verrückte Bilder in ihrem Kopf, die Erinnerungen sein konnten, ebenso gut aber auch nur Einbildung. Pseudo-Erinnerungen an eine Gegend, in die sich ein Mädchen wie sie in einem solchen Kleid lieber nicht verirren sollte - schon gar nicht nachts -, an schwere rennende Schritte und Gestalten in Bomberjacken und an ein blitzendes Messer und Schreie und Blut; und Augen, die sie voller Entsetzen und Unglauben anstarrten. Vielleicht war das alles auch nur ein freundlicher Gruß ihrer Fantasie, die ihr klarmachen wollte, was ihr hätte passieren können und dass sie möglicherweise von Glück sagen

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