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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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zerschlagenen Knöchel mochte es hundert andere Erklärungen geben.
    Auch wenn ihr im Moment keine einzige davon einfiel.
    Tapfer schöpfte sie sich das eisige Wasser nun auch ins Gesicht, tastete mit fest zusammengekniffenen Augen nach einem Handtuch und rubbelte sich Gesicht und Haare trocken, bevor sie es wagte, den Kopf zu heben und in den Spiegel zu sehen.
    Vielleicht war es gut, dass sie das Licht nicht eingeschaltet hatte und der Spiegel schon vor einem halben Jahrhundert begonnen hatte, blind zu werden. Was sie darin sah, war trotzdem mehr, als sie sehen wollte.
    Ihr Haar war jetzt halbwegs sauber, stand aber noch immer wirr in alle Richtungen ab, als wäre es elektrisch aufgeladen, und ihr Gesicht wirkte noch blasser als zuvor. Ihre Wangen waren eingefallen, als hätte sie in einer einzigen Nacht mindestens zehn Kilo abgenommen, und unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. Und da war etwas Fremdes und Erschreckendes in ihrem Blick, das ihr Angst machte.
    Das Schlimmste aber war ihr Hals.
    Lena legte den Kopf auf die Seite und trat noch ein wenig dichter an den beschlagenen Spiegel heran, obwohl es sie große Überwindung kostete. War da ein Flackern, als bewegte sich da etwas hinter ihr, was sich der Spiegel aber zu zeigen weigerte?
    Sie drehte nicht den Kopf, um sich davon zu überzeugen, auch wirklich allein zu sein, sondern zwang sich, ihr eigenes
Konterfei im Spiegel noch genauer anzusehen. Der Hals und die Nackenmuskeln schmerzten nach wie vor, und nun begriff sie auch, warum. Nachdem sie das Blut und all den Schmutz abgewaschen hatte, waren die beiden winzigen Einstiche zwar kaum noch sichtbar, zwei kleine rote Punkte, die schon beinahe lächerlich harmlos wirkten, aber die Haut darum sah dafür umso schlimmer aus. Sie war gerötet, fast wie verbrannt, und die Adern zeichneten sich schwarz und hundertfach verästelt darunter ab; das Netz einer widerwärtigen Spinne, die sich unter ihrer Haut eingenistet hatte und sie nun von innen heraus auffraß.
    Bewegte sich da etwas direkt unter ihrer Haut?
    Was um alles in der Welt hatte diese Schlampe ihr angetan?
    Lena prallte entsetzt vom Spiegel zurück, schaltete nun doch das Licht ein und riss sich mit einem einzigen Ruck das Kleid vom Leib, um ihren Körper zur Gänze zu mustern, so weit der winzige Spiegel es zuließ.
    Abgesehen davon, dass sie auch unter dem Kleid alles andere als sauber war und am ganzen Leib zitterte, fiel ihr nichts Außergewöhnliches auf. Vielleicht, dass ihr Tattoo sonderbar blass wirkte; eine verspielte Sonne, deren Strahlen von ihrem Bauchnabel ausgingen. Aber das konnte auch an dem schlechten Licht hier drinnen liegen oder der Panik geschuldet sein, an deren Rand sie entlangschlitterte.
    Mit zitternden Fingern drehte sie den Wasserhahn wieder zu, beförderte die zerrissenen Überreste ihres Kleides mit einem Fußtritt in die Ecke, in der schon die Schmutzwäsche eines halben Monats lag, und zwang sich noch einmal, ihren Hals in Augenschein zu nehmen, diesmal so emotionslos wie möglich.
    Natürlich war daran rein gar nichts Geheimnisvolles oder gar Übernatürliches, aber sie sah wirklich schlimm aus. Der Hals war geschwollen und so empfindlich, dass es schon beinahe wehtat, ihn auch nur anzusehen. Inzwischen bereitete ihr
das Schlucken Mühe, und ihre Lippen waren so spröde, als hätte sie seit Tagen nichts mehr getrunken.
    Außerdem hatte sie Fieber, noch nicht sehr schlimm, aber von der Art, die einen spüren ließ, dass es erst der Anfang war. Was immer diese total durchgeknallte Louise ihr angetan hatte, es hatte offensichtlich weniger mit Drogen zu tun als vielmehr damit, dass sie sich nicht gründlich genug die Zähne geputzt hatte.
    Lena meinte sich zu erinnern, irgendwo einmal gelesen zu haben, dass der Biss eines Menschen ganz besonders gefährlich sei. Wahrscheinlich hatte diese dämliche Kuh ihr eine ausgewachsene Blutvergiftung angehängt!
    Sie musste zum Arzt, falls sie nicht Gefahr laufen wollte, dass Tom und seine Konkurrenten von der Russenmafia demnächst ihr kleinstes Problem darstellten.
    Aber zuerst einmal brauchte sie Ruhe. Vielleicht half ja schon eine Stunde Schlaf.
    Oder zwei.

8
    Eine Stunde hatte nicht gereicht, genauso wenig wie zwei, drei oder vier. Sie erwachte erst am späten Nachmittag, immer noch fiebernd und vor Schüttelfrost mit den Zähnen klappernd und den Kopf voller wirrer Bilder. Das Licht, das durch die nur halb zugezogenen Vorhänge hereinfiel, stach wie mit glühenden Messerklingen in

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