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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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entsetzlich warm, obwohl sie unter der dünnen Decke so nackt war, wie sie aus dem Bad gekommen war, und zugleich musste sie all ihre Willenskraft aufbieten, um nicht vor Kälte mit den Zähnen zu klappern. »Ich bin … krank. Hab mir was … eingefangen.«

    »Oder eingeworfen«, sagte Holden.
    Lena öffnete nun doch vorsichtig die Augen und sah Holden genau in der Haltung am Schreibtisch lehnend über ihr stehen, wie sie es erwartet hatte: mit vor der Brust verschränkten Armen und leicht schräg gehaltenem Kopf. Sein gieriger Blick tastete über die dünne Decke, unter der sich ihr nackter Körper so deutlich abzeichnete, als hätte sie sich nur in nasses Seidenpapier gehüllt.
    Obwohl ihr jede Bewegung unendliche Mühe und große Schmerzen bereitete, winkelte sie die Beine an, schob sich mit dem Rücken ein kleines Stück weit an der Wand in die Höhe und zog zugleich die Decke so weit hoch, dass sie die beiden winzigen Bisswunden an ihrem Hals verbarg; und auch das schwarze Spinnennetz, das diese umgab.
    Sie musste nicht in den Spiegel sehen, um zu wissen, dass es noch da war. Sie konnte die Spinne fühlen, die auf haarigen Beinen durch ihren Körper stakste und sie Stück für Stück auffraß.
    »Ich weiß nicht, was …«, murmelte sie. »Ich muss mich … erkältet haben.«
    »Jedenfalls siehst du ganz schön scheiße aus«, sagte Holden. Er faltete die Arme auseinander und wühlte in dem Chaos auf ihrem Schreibtisch herum, gab es aber gleich darauf wieder auf und machte ein übertrieben fragendes Gesicht. »Ich nehme an, dass ich das, was du mir versprochen hast, hier nicht finde?«
    »Ich hab’s … versucht«, antwortete Lena. »Wirklich.«
    »Soll ich dir das glauben?« Holdens Rattengesicht verzog sich zu einer Grimasse, die sie nicht deuten konnte. »Du stellst meine Geduld wirklich auf eine harte Probe, Lenalein, weißt du das eigentlich? Erst versetzt du mich, und dann lässt du auch unsere zweite Verabredung platzen, ohne abzusagen.«
    Er grub noch einmal auf ihrem Schreibtisch und fand das Handy so schnell, dass sich für Lena die Frage erübrigte, ob er
vorher schon einmal hier drinnen gewesen war und alles durchsucht hatte. »Dabei hast du doch so ein schickes Telefon. Du hättest anrufen können.«
    »Tut mir … leid.« Sie zitterte am ganzen Leib. »Ich hab’s versucht, aber es … hat nicht … geklappt.«
    »Ja, scheint eine anstrengende Nacht gewesen zu sein«, sagte Holden, nachdem er das Telefon wortlos eingesteckt hatte. Er zog einen roten Fetzen unter der Jacke hervor, den sie erst auf den zweiten Blick als die traurigen Überreste ihres Kleides erkannte. »Wenn du auch nur halb so viel mitgemacht hast wie dein Kleid, dann musst du wirklich eine harte Nacht hinter dir haben. Aber du bist ja ein tapferes Mädchen, nicht wahr?«
    Vor allem war sie ein müdes Mädchen, eines, das Fieber und Schmerzen hatte und mit dem etwas geschah, was es nicht verstand. Und das ihm Dinge antun konnte, die er sich vermutlich nicht einmal vorzustellen vermochte.
    Seltsam - dieser Gedanke entstand vollkommen klar hinter ihrer Stirn, und mit absoluter Gewissheit.
    »Willst du mir erzählen, was passiert ist?«, fragte Holden.
    Nein, wollte sie nicht. »Ich bin hingefallen«, antwortete sie.
    »Hingefallen«, wiederholte Holden und nickte nachdenklich. »Wie oft?«
    »Ein paarmal«, sagte sie. »Es war rutschig.«
    »Und du bist nicht vor jemandem davongelaufen?«, fragte Holden. »Versteh mich nicht falsch. Ich bin nicht nur neugierig. Wenn du in Schwierigkeiten bist, dann sollte ich das wissen. Immerhin bin ich dein Bewährungshelfer und damit für dich verantwortlich. Du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst.«
    Ja, mindestens so sehr wie ihren neuen russischen Freunden. Oder Louise, die sie mit der Rinderpest, der Tollwut, Aids oder vielleicht auch allem dreien infiziert hatte.
    »Ich frage aus einem ganz bestimmten Grund«, sagte Holden. Er begann das zerrissene Kleid in den Händen zu wringen.
»Da treiben sich ein paar komische Typen hier in der Gegend herum. Russen, glaub ich. Oder Rumänen oder Bulgaren oder irgend so ein Kroppzeug. Könnte mir ja egal sein, aber die laufen überall rum und stellen Fragen nach einem jungen Mädchen in einem roten Kleid. Einem Kleid wie dem hier.«
    Lena schwieg. Sie hatte Magenkrämpfe, und die Spinne fraß sich weiter und tiefer in ihren Leib. Ihre Zähne schmerzten, und selbst das gedämpfte Licht, das durch die Vorhänge drang, tat ihren Augen weh. Warum

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