Wir sind die Nacht
ging er nicht einfach und ließ sie in Ruhe?
»Wenn du irgendetwas mit diesen Kerlen zu tun hast, dann musst du es mir sagen«, fuhr er fort. »Solche Typen können echt gefährlich werden, weißt du?«
Nicht halb so gefährlich wie Lena momentan. Und wenn er noch länger so weitermachte, dann würde er das zu spüren bekommen.
Holden deutete ihr Schweigen natürlich falsch, atmete tief durch und schüttelte dann mit übertrieben gespieltem Bedauern den Kopf. »Und ich dachte, wir vertrauen einander«, sagte er enttäuscht. »Das trifft mich wirklich hart. Hatten wir uns nicht geeinigt, dass wir keine Geheimnisse voreinander haben wollen?«
Er zog das Kleid vor dem Gesicht auseinander und betrachtete es schweigend. »Ist zwar völlig im Arsch«, sagte er dann, »aber ich muss gestehen, du siehst einfach umwerfend darin aus. Ich kann beinahe verstehen, dass deine Freunde aus dem Ural sauer auf dich sind. Was ist passiert? Hast du versucht, sie auszutricksen und auf eigene Rechnung zu arbeiten?«
Lena starrte ihn an und begriff erst in diesem Moment, wovon er sprach. Sie hätte gelacht, hätte sie nicht das Gefühl gehabt, innerlich in Flammen zu stehen.
»Du siehst wirklich mies aus, Liebes«, sagte Holden. »Soll ich dir einen Arzt rufen, oder ist es was, was von selbst weggeht?«
»Was, was von … selbst weggeht«, antwortete Lena mühsam. In ihrer Kehle war purer Stacheldraht, und zu allem Übel begann ihr linker oberer Schneidezahn zu bluten. Sie schluckte das Blut hinunter und genoss den warmen Geschmack nach Eisen, der ihr die Kehle hinabrann.
»Ist vielleicht auch besser so.« Holden ballte das Kleid wieder zusammen, presste es sich gegen das Gesicht und sog tief die Luft ein. »Du siehst wirklich nicht gut aus«, sagte er dann. »Schlaf dich erst mal gründlich aus. Ich komme morgen wieder, und dann reden wir über alles, okay?«
Lena nickte schüchtern.
»Also gut, dann verschwinde ich jetzt«, sagte Holden. »Mach dir keine Sorgen. Um deine russischen Freunde kümmere ich mich schon. Schließlich gehöre ich zu den Guten.«
Er lachte meckernd, steckte das Kleid in die Jackentasche und ging. Lena schaffte es, sich so lange zu beherrschen, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann kippte sie zur Seite, spuckte Blut und schwarzen Schleim auf ihr besudeltes Bettlaken und krümmte sich vor Schmerzen. Krämpfe peitschten durch jede einzelne ihrer Muskelfasern, und was sie nicht in Brand setzten, das fraß die schwarze Spinne, die sich beharrlich weiter in ihren Körper wühlte, ihn in Stücke riss und anders wieder zusammensetzte.
Es kam ihr vor wie ein Jahr, das sie im Fegefeuer verbrachte, und sie hätte sich gern eingeredet, dass es in Wirklichkeit nur Sekunden gewesen waren - aber es mussten wohl doch Stunden verstrichen sein, als sie endlich wieder einen halbwegs klaren Gedanken fassen konnte. Schmerz, Übelkeit und Krämpfe (und eine Menge andere Dinge, für die sie bisher nicht einmal ein Wort gehabt hatte) waren noch immer da und nicht weniger schlimm als zuvor, aber irgendwie gelang es ihr nun besser, damit fertigzuwerden.
Es war still. Das einlullende Murmeln des Fernsehers drang
durch die dünne Wand in ihrem Rücken, aber keine Stimmen mehr, weder die ihrer Mutter noch die Holdens. Gut.
Ihr Mund war voller halb geronnenem Blut. Sie schluckte es hinunter, was ebenso unbeschreiblich widerwärtig wie berauschend war, wälzte sich stöhnend auf den Rücken und zwang ihre verklebten Augenlider auseinander. Der Tag war inzwischen ein gutes Stück fortgeschritten und die Sonne weitergewandert. Grelles, feindliches rotes Licht drang durch den fingerbreiten Spalt zwischen den fadenscheinigen Stoffbahnen des Vorhangs und zerteilte das Zimmer diagonal. Es wirkte wie eine tödliche Laserbarriere aus einem verrückten Science-Fiction-Film. Obwohl sie nicht direkt hineinsah, stach das Licht wie mit glühenden Nadeln in ihre Augen, aber noch viel schlimmer als der bohrende Schmerz war das, was sie spürte: Furcht. Dieses Licht - der Tag! - war zu ihrem Feind geworden. Aus tränenden Augen betrachtete sie die Sonnenstäubchen, die in diesem verheerenden Licht tanzten, stemmte sich in die Höhe und wickelte sich mit zitternden Fingern aus ihrer Decke. Ihr Körper glühte noch immer in einem verzehrenden inneren Feuer, und da war etwas, das - fast - erwacht war und mit leiser, noch unverständlicher Stimme zu ihr zu reden begann.
Es vergingen Minuten, bis sie die Kraft aufbrachte, die Beine von
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