Wir sind die Nacht
Schultern, Brust und Rücken. Es half tatsächlich, aber nicht
annähernd so, wie sie es sich gewünscht hätte. Kurz entschlossen trat sie in die Badewanne und löste den Duschschlauch aus der Halterung. In Erwartung des kommenden Schocks biss sie die Zähne zusammen, dann drehte sie das kalte Wasser auf.
Er kam nicht. Das Wasser war zwar eisig kalt, aber es tat nicht weh. Die Kälte ließ sie schaudern, aber sie konnte spüren, wie die verzehrende Glut hinter ihrer Stirn verlosch.
Etliche Minuten lang stand sie einfach so da, drehte sich unter dem eisigen Strahl und war froh, nicht mehr innerlich in Flammen zu stehen. Aber irgendwann begann ihr Arm zu erlahmen, und die Glut erlosch auch nicht mehr so schnell wie am Anfang.
»Was treibst du da eigentlich?«, drang die Stimme ihrer Mutter durch die Tür. »Lass nicht so lange das Wasser laufen! Weißt du, was das kostet?«
Lena hängte den Schlauch tatsächlich zurück, aber nur um sich zu bücken, den Stopfen in den Abfluss zu rammen und sich dann der Länge nach in der Wanne auszustrecken. Ihre Mutter rief noch etwas, worauf sie aber nicht achtete, dann hörte sie, wie die Kühlschranktür aufgerissen wurde. Offenbar holte sich ihre Mutter ein neues Bier, um die unterbrochene Sauftour fortzusetzen.
Lena schloss die Augen und genoss das Gefühl, mit dem das eisige Wasser langsam an ihr heraufkroch, um sie schließlich ganz zu bedecken. In ihrem Inneren tobte noch immer die verzehrende Glut, aber nun hatte sie einen Verbündeten in ihrem Ringen gegen die schwarze Spinne. Der Kampf war grausam, und er schien kein Ende zu nehmen, aber irgendwann wurde es leichter. Und dann - sehr viel später - änderte sich etwas.
Vielleicht war es einfach die Tatsache, dass sie zu frieren begann. Das Wasser war nicht kälter als in den ein, zwei Stunden zuvor, in denen sie reglos dagelegen und darauf gewartet hatte, dass die Sonne unterging, aber jetzt war die Kälte nicht
mehr wohltuend, sondern wurde in zunehmendem Maße unangenehm.
Lena lauschte in sich hinein und fand die Erklärung dafür: Ihr Fieber war weg. Es hatte funktioniert.
Rasch stieg sie aus dem Wasser und sah sich nach einem Handtuch um, fand aber natürlich keines. Der einzige Stoff, den es hier drinnen gab, war die dünne Decke, die sie den ganzen Tag über vollgeschwitzt hatte. Damit würde sie sich ganz bestimmt nicht abtrocknen. Also musste sie es darauf ankommen lassen, ihre Mutter ein weiteres Mal zu schockieren, und nackt in ihr Zimmer gehen.
Als sie am Waschbecken vorbeikam, blieb sie abrupt stehen und riss die Augen auf.
Das Gesicht, das ihr aus dem halb blinden Spiegel entgegenstarrte, gehörte ihr nicht, so wenig wie der Körper, den sie teilweise darunter sehen konnte.
Verwirrt trat sie näher an den Spiegel heran und fuhr mit der Handfläche über das beschlagene Glas, konnte aber trotzdem kaum mehr als einen verblassenden Schemen erkennen.
Ohne einen Gedanken an ihre Mutter zu verschwenden, stürzte sie aus dem Bad, rannte ins Schlafzimmer ihrer Mutter und schaltete das Licht ein. Der Raum war ein Saustall, in dem es zum Gotterbarmen stank, aber in all dem Unrat gab es einen altmodischen Kleiderschrank mit verspiegelten Türen, in denen sie sich komplett betrachten konnte.
Seltsamerweise war das Spiegelbild genauso unscharf wie das im Bad, aber diese Erkenntnis verblasste angesichts dessen, was sie sah: Natürlich war es kein fremdes Gesicht, in das sie blickte, so wenig wie der dazugehörige Körper der einer Fremden war. Beides gehörte ihr … und zugleich auch wieder nicht.
Es begann mit ihrem Gesicht. Es sah nicht mehr eingefallen und krank wie noch vor einer Stunde aus. Trotz der Blässe wirkte es so kraftvoll und vor Leben strotzend, dass sie beinahe vor
sich selbst erschrak. Die Lippen waren voller geworden - sinnlicher -, und die Augen strahlten eine Kraft aus, die die Luft zum Vibrieren zu bringen schien. Das Sonnentattoo um ihren Bauchnabel war verschwunden, als hätte es sich im kalten Wasser einfach aufgelöst, und Ähnliches galt für ihr Haar. Aus dem schlecht gefärbten Blond war wieder ihr natürliches Schwarz geworden, allerdings in einem sehr viel dunkleren, glänzenderen Ton, als sie ihn jemals gehabt hatte. Ihre Brüste waren eindeutig größer geworden, die Hüften ein wenig breiter, und es gab noch hundert andere, nicht ganz so auffällige Veränderungen, die in ihrer Gesamtheit aber alle auf eines hinausliefen: Sie war eindeutig fraulicher geworden.
Diese
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