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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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Veränderung gefiel ihr.
    Trotzdem begann ihr Herz vor Angst zu klopfen, als sie nun dichter an den Spiegel herantrat und die Oberlippe zurückzog, um ihre Zähne zu begutachten.
    Sie waren wieder vollständig. Der Schneidezahn, den sie in der Toilette verloren hatte, war wieder da, und auch sein Gegenstück auf der anderen Seite war wieder fest. Aber auch sie hatten sich verändert. Sie kamen ihr eine Winzigkeit zu lang vor, und vielleicht etwas zu spitz …
    Ihre Mutter erwachte schmatzend auf der Couch, als Lena fünf Minuten später aus ihrem Zimmer gestürmt kam, wieder in Jeans, Kapuzenpullover und Turnschuhe gekleidet.
    »Wo willst du denn hin?«, nuschelte ihre Mutter schlaftrunken.
    »In die Nacht«, antwortete Lena.

9
    Ihre Sinne waren eindeutig schärfer geworden.
    Am Anfang hatte sie noch geglaubt, sie würde sich das nach den endlosen Stunden einbilden, die sie wie eine Gefangene im eigenen Körper zugebracht hatte, aber das stimmte nicht. Es war dunkel, und so weit weg vom schlagenden Herzen der Stadt hätte es vollkommen still sein müssen. Aber sie hörte das dumpfe Raunen, das über die Dächer im Westen heranwehte, und sie konnte beinahe besser sehen als am Tag. Die letzten Passanten, denen sie begegnet war, waren ihr auf der anderen Straßenseite entgegengekommen und hatten nur mit gedämpften Stimmen miteinander gesprochen. Trotzdem hatte sie jedes Wort verstanden und sogar das Aftershave des Mannes und den Zigarettenrauch im Atem seiner Begleiterin gerochen.
    Das Ganze war äußerst unheimlich und hätte ihr eigentlich Angst machen sollen, aber das Gegenteil war der Fall: Es fühlte sich richtig an, so als wäre etwas eingetreten, worauf sie zeit ihres Lebens gewartet hatte. Alles wirkte schärfer, klarer, lebendiger . Selbst der Mond kam ihr größer vor als sonst. Sie konnte jeden einzelnen Krater mit fast übernatürlicher Schärfe erkennen. Und ganz tief in ihr war etwas wie eine lautlose Stimme; als versuchte die bleiche Scheibe dort oben ihr etwas in einer Sprache zuzuflüstern, die sie nicht verstand. Noch nicht.
    Lena lächelte flüchtig in sich hinein, überquerte die Straße,
ohne sich umzusehen, bog am Ende der Straße ab und hielt dann abrupt inne, als der schlammige Parkplatz des Clubs vor ihr lag. Er war leer. Ein einsamer Wagen stand am anderen Ende, und der Club selbst lag dunkel da wie eine schwarze Klippe, die sich trotzig gegen die Nacht stemmte. In dem ganzen weitläufigen Komplex brannte nicht ein einziges Licht.
    Sie ging weiter, wurde aber langsamer, je näher sie dem ehemaligen Schwimmbad kam, und hielt schließlich ganz an. Der riesige Neonschriftzug über dem Eingang war dunkel, und auch der kleinere Sinnspruch darunter war ausgeschaltet, aber sie konnte die Schrift trotzdem deutlich lesen. WIR SIND DIE NACHT. Etwas in ihr spürte, wie richtig diese Aussage war und dass sie - wenn auch nicht nur - für sie bestimmt war.
    Lena verscheuchte auch diesen Gedanken, stieg die kurze Treppe zur Tür hinauf und drückte auf die Klingel. Nichts geschah. Das Gebäude blieb vollkommen still. Aber jemand - etwas - war hier. Dieser Ort hatte sie gerufen, und sie hatte nicht die Kraft, diesem Ruf zu widerstehen. Sie wollte es auch gar nicht.
    Ihre Hand zitterte ganz sacht, als sie die Klinke herunterdrückte. Die Tür war nicht verschlossen, sondern schwang überraschend leicht und lautlos nach außen, und ganz anders als erwartet, war der Raum dahinter fast taghell erleuchtet. Erst als sie hindurchtrat und die Tür hinter sich zuzog, begriff sie, dass es nur der matte bläuliche Schimmer der Notbeleuchtung war, eine Handvoll winziger LEDs, die kaum mehr Licht spendeten als die Sterne am Himmel. Noch gestern wäre sie hier so gut wie blind gewesen. Jetzt reichte schon dieser blasse Schimmer, um sie jedes winzige Detail erkennen zu lassen.
    Sie hatte tatsächlich das eine oder andere mit Vampirella zu besprechen, dachte sie zornig, während sie die Tür vollends hinter sich einrasten ließ. Ein ganz leises Summen erscholl, gefolgt von einem kaum lauteren Klicken, und als sie die Klinke
wieder herunterdrücken wollte, ging es nicht. Sie war darüber nicht einmal sonderlich überrascht. Aber verärgert.
    Aufmerksam sah sie sich um, schloss schließlich die Augen und lauschte. Irgendetwas war da, aber es war selbst für ihr geschärftes Gehör zu leise, um es zu identifizieren.
    Dann wurde die Musik lauter, weil eine offensichtlich schalldämmende Tür geöffnet wurde, und leichte, aber

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