Wir sind die Nacht
erreicht hatte. Lena spürte, wie sie in einen Rausch zu geraten drohte, einen Zustand nie erlebter Euphorie, hinter dem etwas noch viel Fremdartigeres und Machtvolleres zu erwachen begann.
»Lena?«
Die Stimme ihrer Mutter klang schleppend und noch undeutlicher als sonst. Lena war laut genug gewesen, um ihre Mutter aufzuwecken, aber nachdem diese den Rest des Nachmittags damit zugebracht hatte, sich ins Koma zu saufen, galt das wahrscheinlich nur für ihren Körper. Lena sah zu ihr hoch, und ihre Mutter stieß einen komisch klingenden, quiekenden kleinen Schrei aus, schlug die Hand vor den Mund und prallte dann wie von einem Faustschlag getroffen zurück.
Lena sah ihr verständnislos nach und blickte dann auf ihre Hände hinab, die sich wie die Krallen eines bizarren Riesenraubvogels in das Stück Leber gegraben hatten. Mit Wasser vermischtes kaltes Blut lief ihr über die Hände und tropfte auf den Boden. Ein Teil von ihr verlangte danach, das rohe Fleisch hinunterzuschlingen und dieses kalte Blut zu trinken und -
Angewidert warf sie das rohe Fleisch in den Kühlschrank, sprang auf und stürmte ins Bad zurück. Ihre Mutter rief ihr irgendetwas hinterher, was im Geräusch der zuschlagenden Tür unterging, während sie sich bereits über die schmutzige Toilette beugte und würgend ihren Mageninhalt von sich gab; zusammen mit noch etwas, was sich mit einem reißenden Schmerz aus ihrem Oberkiefer löste, um in der Schweinerei im Becken zu verschwinden.
Als sie aufstehen wollte, schüttelte sie ein noch heftigerer Krampf, und sie übergab sich ein weiteres Mal, bis sie nur noch bittere Galle herauswürgte.
Hinter ihr wummerte es an der Tür, die dann aufgerissen wurde, noch bevor sie hätte antworten können. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte ihre Mutter mit schwerer Zunge.
»Siehst du doch«, antwortete Lena, ruppig und ohne sie anzusehen. Alles um sie herum drehte sich, und das kurze Hochgefühl, mit dem sie der grässliche Trank erfüllt hatte, verebbte bereits und ließ nichts als eine schreckliche Leere zurück. »Hau ab!«
»Ganz wie du willst«, lallte ihre Mutter. »Aber bilde dir bloß nicht ein, dass ich hier sauber mache. Kotz gefälligst dein eigenes Zimmer voll.«
Das tue ich, Mutter , dachte sie. Vielen Dank. Und mach dir bloß keine Sorgen um mich. Sie schwieg, bis die Tür wieder zugezogen wurde, dann fuhr sie sich angeekelt mit dem Handrücken über den Mund, stemmte sich hoch und schleppte sich zum Waschbecken.
Als sie in den Spiegel sah, konnte sie die erschrockene Reaktion ihrer Mutter verstehen. Ihr blasses Gesicht wirkte in dem blinden Spiegel irgendwie substanzlos, und ihre Augen schienen nun vollkommen schwarz geworden zu sein, nur noch Pupillen, ohne das geringste Weiß. Ihre Lippen waren von dem verdünnten Blut, das sie getrunken hatte, ganz rot. Zwei hellrote
Bahnen waren an ihren Mundwinkeln herabgelaufen und verliehen ihrem Spiegelbild etwas von einer diabolischen Bauchrednerpuppe.
Angewidert wusch sie sich das Blut vom Mund. Mit einem schmerzhaften Zischen fuhr sie zusammen und zog dann behutsam die Oberlippe hoch.
Ihr rechter oberer Schneidezahn fehlte, und als sie vorsichtig mit der Zungenspitze nach dem anderen tastete, spürte sie, dass er ebenfalls locker war.
Das also war die Erklärung, dachte sie. Louise war ein Vampir, und nachdem sie sie gebissen hatte, verwandelte sie sich ebenfalls in einen solchen … Warum war sie nicht schon längst darauf gekommen?
Viel wahrscheinlicher allerdings erschien es ihr, dass sie allmählich den Verstand verlor.
Sie schnitt eine Grimasse, drehte das Wasser auf und wusch sich gründlich das Gesicht. Anschließend spülte sie sich mehrmals den Mund aus, hütete sich aber, auch nur den winzigsten Tropfen zu trinken. Dann sah sie wieder in den Spiegel. Ihr Gesicht war jetzt sauber, aber es wirkte beinahe noch blasser, so als stünde sie im Begriff, aus der Welt des Realen hinauszugleiten.
Es gab noch eine dritte Erklärung, dachte sie matt. Sie halluzinierte. Ihre Stirn glühte immer noch vor Fieber, und sie war schon wieder genau sodurstig wie zuvor. Vielleicht brauchte sie noch einen Schluck frisches Blut, ha, ha.
Tatsache war, dass sie immer noch hohes Fieber hatte. Sie musste zum Arzt, bevor es wirklich schlimm wurde. Aber irgendetwas in ihr sträubte sich gegen diesen Vorsatz.
Vielleicht half es ja, wenn sie sich ein bisschen Abkühlung verschaffte.
Sie goss sich mehrere Hände voll kaltes Wasser über Gesicht,
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