Wir sind die Nacht
unbequem, wie sie aussahen.
»Du darfst dich noch nicht so anstrengen, Lena«, sagte Louise ernst. »Ich weiß, das muss jetzt alles sehr verwirrend für dich sein, und wahrscheinlich hast du große Angst, aber glaub mir, das ist absolut nicht notwendig.«
Sie ging um den Tisch herum zur Bar. Nora blieb neben Lena stehen, die tatsächlich alle Mühe hatte, sich auf dem Stuhl zu halten, und sich fragte, ob Nora das tat, um ihr notfalls zu helfen oder um auf sie aufzupassen.
Louise angelte ein Champagnerglas hinter der Bar hervor, goss etwas aus einem verchromten Kühlbehälter ein und kam mit schnellen Schritten zurück.
»Hier«, sagte sie. »Trink das. Danach geht es dir besser.«
Lena starrte das Glas an. Sie wusste, was es enthielt, weigerte sich aber, dieses Wissen ganz in ihr Bewusstsein dringen zu lassen.
»Trink«, sagte Nora.
»Lass sie«, sagte Louise. Sie stellte das Glas vor Lena ab und griff nach ihrem eigenen, um einen kleinen Schluck zu nehmen. Die winzigen Tröpfchen, die sie sorgsam mit der Zungenspitze aufleckte, waren auf ihren blutfarben geschminkten Lippen kaum zu sehen.
»Du bist jetzt verwirrt und wütend«, fuhr sie fort, »und verlangst eine Erklärung. Dazu hast du alles Recht. Aber ich glaube, du kennst die Wahrheit längst. Du hast noch keine Worte dafür, aber du fühlst es.«
Lena wollte irgendetwas darauf erwidern, aber sie konnte es nicht. Ihr Blick hing wie hypnotisiert an dem Champagnerglas, und ihre Kehle fühlte sich schon wieder wie ausgedörrt an. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Fieber zurückkam.
»Du hast es immer schon gewusst. Du wusstest nur nicht, was du weißt.«
Lena wollte nicht über diese Worte nachdenken. Sie deutete auf das Glas, ohne es anzusehen. »Ist das … Blut?«, fragte sie mit zitternder Stimme. Kalter Schweiß perlte auf ihrer Stirn.
»Nicht von einem Menschen. Wenn es das ist, wovor du Angst hast«, antwortete Louise.
Lena spürte, dass sie log. »Ich will jetzt sofort wissen, was du mit mir gemacht hast«, sagte sie. »Warum hast du mich hierher gelockt?«
Louise lachte leise, nippte wieder an ihrem Glas und beugte sich dann vor, um das andere ein Stück weiter in Lenas Richtung zu schieben. »Vielleicht war es ja genau anders herum«, sagte sie. »Kann es nicht sein, dass du nach uns gesucht hast? Nach einem Platz wie diesem?«
»Unsinn!«, fauchte Lena. »Bis gestern Abend wusste ich noch nicht einmal, dass es den Laden hier gibt!«
»Aber du hast es gespürt«, sagte Louise. »So ist das nämlich: Wir spüren einander.«
»Ihr spürt einander? Was soll das heißen?« Es gelang ihr kaum, den Blick von dem Glas loszureißen. Die Gier wurde immer schlimmer. In der Flüssigkeit schwammen winzige Eiskristalle, die sich nach und nach auflösten und das Glas beschlagen ließen. Und der Geruch war so unbeschreiblich süß.
»Wir«, verbesserte sie Louise. »Du bist eine von uns, Lena. Das warst du schon immer, und ganz tief in dir drin hast du das auch immer schon gewusst. Lausch in dich hinein, und du wirst sehen, dass ich recht habe.«
»Was seid ihr?«, fragte Lena. Sogar sie selbst hörte, wie sehr ihre Stimme zitterte. Was sie für Fieber gehalten hatte, kam zurück, und es war nicht nur stärker als zuvor, sondern auch etwas ganz anderes und viel Schlimmeres. »Vampire?«
Louise machte ein sonderbares Gesicht, und Charlotte sah hinter der Bar nun doch von ihrem Buch auf, schlug es mit einem resignierenden Seufzen zu und wandte sich dann in leicht vorwurfsvollem Ton an Louise. »Ich habe es dir gesagt: Du hättest Abraham niemals erlauben dürfen, dieses unselige Buch zu schreiben.«
»Welches Buch?«, fragte Lena.
»Vampire.« Louise wiederholte das Wort auf eine Art, die Lena einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Sie atmete hörbar ein. »Ja, ich glaube, manche nennen uns so. Auch wenn dieses Wort so falsch ist, wie es nur geht.«
»Weil ihr kein Blut trinkt?«, fragte Lena böse. »Oder andere nicht zu euresgleichen macht?«
»Unseresgleichen, Lena«, antwortete Louise. »Das ist ein Unterschied. Und wir trinken kein Menschenblut.«
»Jedenfalls nicht oft«, fügte Charlotte hinzu.
Louise schenkte ihr einen bösen Blick. Für den winzigen Teil einer Sekunde blitzte etwas in ihren Augen auf, das Lena Angst machte. Aber es erlosch sofort wieder, und das verständnisvolle Lächeln kehrte auf Louises Gesicht zurück, während sie sich wieder an Lena wandte. »Ich habe dir nichts getan, Lena. Unser … Zustand …
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