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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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lässt sich nicht wie eine ansteckende Krankheit übertragen, auch wenn es in all diesen albernen Büchern steht.« Sie lachte. »Wäre es so, dann gäbe es längst nur noch uns und keine Menschen mehr, das ist eine simple mathematische Gleichung.«
    »Und was … ist es dann?«, fragte Lena. Das Glas vor ihr schrie danach, getrunken zu werden. Sie hatte nie zuvor einen so grausamen Durst verspürt.
    »Eine Gabe, ein verborgenes Talent, ein Geschenk des Schicksals, ein Fluch …« Louise deutete ein Schulterzucken an. »Wir haben es nie herausgefunden, Liebes - und wie auch? Fragen sich die Menschen, warum sie Menschen sind? Vielleicht sind wir nichts als eine Laune der Natur. Vielleicht sind wir Missgeburten. Vielleicht auch die Krone der Schöpfung … Wer will das wissen? Und wen interessiert es?«
    »Mich«, antwortete Lena.
    »Deine neue Eroberung macht es dir nicht leicht«, sagte Charlotte spöttisch.
    Diesmal ignorierte Louise sie. »Wir werden nicht so gemacht, Lena«, sagte sie. »Wir werden so geboren . Du, Charlotte, Nora, ich … Es ist vom Tag unserer Geburt an in uns. Es muss nur geweckt werden. Das ist das Einzige, was ich getan habe. Mach mich nicht für etwas verantwortlich, was die Natur dir zugedacht hat.«
    Ganz instinktiv presste Lena die Hand gegen die Stelle über ihrer Halsschlagader, an der vor wenigen Stunden noch die beiden winzigen Einstiche zu sehen gewesen waren. »Du hättest mich fragen können«, sagte sie.

    »Glaub mir, Liebes«, sagte Louise ernst, »es hat mir sehr viel mehr wehgetan als dir.«
    »Das hört man gern«, fauchte Lena. Aber sie musste auch daran denken, wie Louise von einer unsichtbaren Kraft gepackt und quer durch den Raum geschleudert worden war, und sie erinnerte sich an den Ausdruck unvorstellbarer Qual auf Louises Gesicht. Ihre patzige Antwort tat ihr leid. Beinahe hätte sie sich bei ihr entschuldigt.
    »Manche von uns«, fuhr Louise ungerührt fort, »behaupten, eine äußerst seltene Blutgruppe sei für unsere Existenz verantwortlich, andere sprechen von einem Gendefekt, einer Anomalie, einer Laune der Evolution. Aber ich bin eine altmodische Frau. Ich ziehe die Metaphysik der Wissenschaft vor. Ich glaube, wir sind … auserwählt.«
    Sie schob Lena das Glas zu. Die gefrorene rote Flüssigkeit war fast geschmolzen, und der Geruch trieb Lena nahezu in den Wahnsinn. Sie wusste weniger denn je, was Louise wirklich war, aber eines wusste sie ganz sicher: Sie war eine ganz hervorragende Versucherin.
    »Ich … werde das nicht trinken«, brachte sie mühsam hervor.
    »Aber es ist dein neues Leben«, sagte Louise. Sie sah Lena auffordernd an und hielt ihr das Glas hin. »Auf die Unsterblichkeit.«
    Lena konnte das frische Blut riechen, und alles in ihr schrie danach, Louise das Glas aus der Hand zu reißen und den Inhalt mit einem einzigen Zug hinunterzustürzen. Sie brauchte dieses Blut. Jetzt.
    Zitternd stand sie auf, nahm das Glas aus Louises Hand - und schleuderte es in die Dunkelheit hinter ihr, wo es klirrend zerbarst.
    »Das ist doch totaler Schwachsinn!«, brüllte sie. »Ihr seid ja völlig irre!«
    Louise senkte enttäuscht den Kopf.

    »Meine Rede«, sagte Charlotte amüsiert. »Deine neue Eroberung ist widerspenstig. Aber du magst ja die mit Ecken und Kanten, nicht wahr?«
    »Wie man an dir sieht«, giftete Louise sie an, hatte sich aber auch jetzt sofort wieder in der Gewalt und lächelte gleichermaßen sanftmütig wie verständnisvoll. »Wir sollten uns nicht streiten«, sagte sie. »Nicht vor Lena. Die Ärmste macht im Moment schon genug mit.« Sie stand auf. »Lena, du musst …«
    »Ich muss gar nichts!«, unterbrach sie Lena. Sie wollte schreien, aber alles, was über ihre Lippen kam, war ein krächzendes Flüstern wie das einer uralten, sterbenden Frau. »Ich muss hier raus. Ich … ich bin krank, das ist alles. Ich muss in ein Krankenhaus. Zum Arzt.«
    »Zum Arzt«, wiederholte Nora nachdenklich. »Und was genau willst du dem erzählen?«
    Dass ihr der kalte Schweiß ausbrach? Dass ihre Hände zitterten, ihr Herz raste und sie abwechselnd von Übelkeit und Krämpfen geschüttelt wurde? Abgesehen von einer Zigarette dann und wann hatte sie mit Drogen nie etwas am Hut gehabt, aber sie hatte oft genug gesehen, was sie anrichteten, um zu wissen, was mit ihr los war. Ich bin auf kaltem Entzug, Herr Doktor, Blutentzug, ha, ha.
    »Wir können dir helfen«, sagte Charlotte. »Du musst es nur zulassen.«
    Damit ich so werde wie ihr? »Drauf geschissen«,

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