Wir sind die Nacht
mit den Zähnen den schwarzen Lederhandschuh herunter. Lena sah Nora fragend an, als die ihr die Hand hinhielt, aber auf deren aufforderndes Nicken ergriff sie sie schließlich. Im ersten Moment geschah überhaupt nichts, aber dann … floss etwas von der Kraft dieses zerbrechlich aussehenden Mädchens in ihre Hand und von dort aus in ihren Körper. Die Übelkeit ließ nach, und kurz darauf verschwanden auch die Krämpfe. Das Fieber, das kein Fieber war, sondern etwas gänzlich anderes, verflüchtigte sich zwar nicht, war jetzt aber nicht mehr so quälend.
»Was … hast du gemacht?«, fragte Lena verblüfft.
»Nur ein kleiner Trick«, antwortete Nora lächelnd. »Ich bringe ihn dir bei, wenn du willst … aber freu dich nicht zu früh. Sie hält nicht lange.«
»Was?«
»Die Kraft, die ich dir gegeben habe«, sagte Nora. »Meine Kraft.«
»Und ihr … könnt das alle?«
»Wir«, verbesserte sie Nora und lachte wieder. »Und ja, wir können das alle, und noch sehr viel mehr. Aber wie gesagt: Überschätz dich jetzt nicht. Es hält nicht lange vor. Bis du zu Hause bist vielleicht. Und auch das nur, wenn wir uns ein bisschen beeilen.«
»Und dann?«, fragte Lena.
»Das liegt ganz bei dir«, sagte Nora. »Ich mach dir nichts vor, Süße. Du … musst das nicht tun. Leg dich ins Bett, und beiß für ein paar Tage die Zähne zusammen, und dann kannst du dir einreden, dass das alles nur ein böser Traum war, und in dein altes und ach so schönes Leben zurückkehren, als wäre nichts gewesen.«
Lena sah sie misstrauisch an. »Was meinst du damit?«
»Habe ich dir eigentlich schon zum Geburtstag gratuliert? Deinem einundzwanzigsten?«
»Ihr habt mich ausspioniert«, sagte Lena vorwurfsvoll.
»Glaub mir, Kleines, gestern Abend wussten wir noch nicht einmal, dass es dich gibt«, antwortete Nora.
»Sicher!« Lena schnaubte zornig. »Deshalb weißt du auch, dass ich vor vier Tagen einundzwanzig geworden bin und ein absolut beschissenes Leben führe, nicht wahr?«
»Einundzwanzig ist genau das Alter, in dem unsere Kräfte erwachen«, erwiderte Nora gelassen. »Frag mich nicht, warum, ich weiß es nicht. Nur dass es bei uns Frauen eben so ist.«
»Und den Männern?«
»Ein bisschen später«, sagte Nora. Aus irgendeinem Grund hatte Lena das Gefühl, dass ihr die Frage unangenehm war. Dann aber lachte Nora und fuhr fort: »Wie im richtigen Leben, was? Wir Mädels sind ja immer ein bisschen schneller. Niemand weiß, warum das so ist. Ich glaube, nicht einmal Louise, auch wenn sie gern so tut, als wüsste sie alles.« Sie hob die Schultern, lenkte den Wagen auf kreischenden Reifen um eine Kurve und gab noch mehr Gas, als die Auffahrt der Stadtautobahn vor ihnen auftauchte. Lena vermied es tunlichst, auf den Tacho zu sehen.
»Ich habe da meine eigene Theorie. Willst du sie hören?«
»Nein«, log Lena.
»Ich glaube, dass es uns schon immer gegeben hat«, fuhr
Nora unbeeindruckt fort. »Louise meint, wir wären etwas Besonderes … Auserwählte. Vielleicht stimmt das sogar, vielleicht nimmt sie sich aber auch nur zu wichtig. Spielt eigentlich keine Rolle. Ich denke, dass es sehr viel mehr von uns gibt, als sie glaubt. Vielleicht steckt es sogar irgendwo in jedem Menschen, nur nicht bei allen gleich stark. Es gibt jedenfalls einen Moment, in dem diese Kraft geweckt werden kann, wenn man weiß, wie. In einer kurzen Zeitspanne um deinen einundzwanzigsten Geburtstag herum. Möglicherweise hat es ja einen Grund, dass in den meisten Kulturen die Kinder mit einundzwanzig zu richtigen Menschen erklärt werden. Oder es ist einfach nur Zufall.«
»Genauso zufällig, wie du weißt, was für ein beschissenes Leben ich führe«, sagte Lena. »Verarsch mich nicht.«
»Du klaust doch nicht, weil es dir so gut geht«, sagte Nora. »Oder aus Abenteuerlust.« Sie hob die Hand, weil Lena widersprechen wollte, und fuhr mit leicht erhobener Stimme fort: »Das ist auch etwas, was uns verbindet, weißt du? Wir alle waren mit unseren früheren Leben unzufrieden. Oder willst du mir erzählen, dass du glücklich bist?«
Lena schwieg, aber das schien Nora als Antwort zu genügen.
»Wie gesagt, es ist nur meine eigene Theorie, und Louise würde wahrscheinlich herzhaft darüber lachen. Nicht alle hat es so schlimm erwischt wie dich, aber ich denke, wir spüren einfach tief in uns, dass da noch mehr ist. Dass wir für etwas Größeres bestimmt sind. Und deshalb sind wir mit unserem Leben unzufrieden und neigen dazu, daran zu scheitern. Oder
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