Wir sind die Nacht
Mannes, allerdings nur in einer Richtung, denn er starrte in den Spiegel an der Rückseite der Kabine, und alles, was sie in seinen weit aufgerissenen Augen las, war absolutes Entsetzen.
Lena steuerte die breite Treppe am anderen Ende des Korridors an. Wie es aussah, war nicht nur der Tag ab sofort für sie
tabu, sondern auch Aufzüge. Sie fragte sich, wie lang diese Liste noch werden würde.
Sie ging die breite Treppe ins Erdgeschoss langsamer hinunter, als notwendig gewesen wäre, denn sie genoss jeden Schritt und jeden Atemzug, den sie in dieser neuen und faszinierenden Welt tat. Alles hier war edel, teuer und auf eine unaufdringliche Art luxuriös.
Du bist eine elende Materialistin, Lena, dachte sie und fügte lächelnd hinzu: Na und?
Louise, Charlotte und Nora warteten in der Lobby auf sie, genau wie Louise es gesagt hatte, aber sie brauchte einen Moment, um sie zu entdecken. Der Raum war ungefähr so groß wie ein Flugzeughangar und wirkte durch die einzelnen Sessel und kleinen Sitzgruppen, die scheinbar chaotisch verteilt waren, deutlich leerer, als er war. Die drei saßen an einem Tisch direkt am Fenster, und es hätte Lenas kleinen Abenteuers im Aufzug nicht bedurft, um sie sich fragen zu lassen, ob Louise dieses Risiko eigentlich ganz bewusst einging, weil sie so gern mit dem Feuer spielte. Hinter dem deckenhohen Fenster herrschte bereits finsterste Nacht, wodurch es zu einem riesigen schwarzen Spiegel wurde. In der Reflexion war die kleine Sitzgruppe davor leer, obwohl Louise und die beiden anderen in den verspielten Sesseln saßen und Champagner tranken.
Louise schien ihre Annäherung zu spüren. Obwohl keine von ihnen in ihre Richtung sah (und sie selbst sich ja auch nicht in der Scheibe spiegelte), stand sie mitten im Wort auf und drehte sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihr um.
»Lena!«, rief sie. »Du siehst umwerfend aus, Liebes!«
Lena hätte das Kompliment an alle drei zurückgeben können … auch wenn sie zugleich einen ziemlich sonderbaren Anblick boten. Alle drei trugen Kleider, die ihrem in nichts nachstanden, davon abgesehen aber so unterschiedlich waren, wie es nur ging. Louise trug ein elegantes Kleid in Rot - das schien
ihre Lieblingsfarbe zu sein - und hochhackige Schuhe, die vermutlich unbequem waren, aber sicher ganz hervorragende Mordwerkzeuge abgaben, und dazu die winzigste Handtasche, die sie jemals gesehen hatte.
Nora trug irgendetwas sehr Buntes und Schrilles, das so aussah, als stammte es aus dem London der Achtziger, und Charlotte hatte sich gleich fast um ein Jahrhundert in der Zeit verschätzt, sah in ihrem weit ausgeschnittenen Kleid und dem ausladenden Ava-Gardner-Hut aber einfach umwerfend aus.
»Du hast uns ziemlich lange warten lassen, Liebes«, fuhr Louise fort, »aber es hat sich gelohnt.«
»Das Kleid ist … hübsch«, sagte Lena unbeholfen. »Danke.«
»Charlotte hat es ausgesucht«, sagte Louise.
»Ja«, bestätigte Charlotte. »Die Größe scheint zu stimmen, und es steht dir … obwohl ich mir immer noch nicht ganz sicher bin.«
»Womit?«, fragte Lena.
»Ob ich nicht lieber ein Hochzeitskleid hätte auswählen sollen«, antwortete Charlotte. Sie lächelte unerschütterlich weiter, aber es war kein überzeugendes Lächeln, und die Worte waren auch nicht an sie adressiert, sondern an Louise. Ganz kurz blitzte Ärger in deren Augen auf, aber das Funkeln erlosch genauso schnell wieder, wie es gekommen war.
»Setz dich zu uns, Liebes«, sagte Louise. »Trink etwas mit uns.«
Lena rührte sich nicht. Sie fühlte sich immer unbehaglicher, und die ganze Situation kam ihr unwirklich vor. Sie stand hier zusammen mit drei wunderschönen Frauen, die kein Spiegelbild warfen, trug ein Kleid aus einem Universum, das bisher so weit weg gewesen war, dass sie bis gestern eigentlich nicht von seiner Existenz gewusst hatte, und wahrscheinlich starrte jedes männliche Wesen in der gesamten Lobby sie gerade an, bemüht,
nicht allzu sichtbar zu sabbern. Und Louise fragte sie, ob sie etwas mit ihr trinken wollte?
»Wie du willst.« Louise wirkte ein bisschen enttäuscht.
»Sei nicht zu streng mit ihr, Louise«, sagte Nora. »Sie ist gerade erst zu uns gestoßen. Ich habe damals einen ganzen Monat gebraucht, bevor ich auch nur ein einziges vernünftiges Wort herausbringen konnte.«
»Dafür redest du seither ununterbrochen«, fügte Charlotte hinzu.
Nora streckte ihr die Zunge heraus und sprang dann auf, um mit einem einzigen Schritt bei Lena zu sein und sie so
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