Wir sind die Nacht
kleinen Wermutstropfen allerdings, dass alles nur ein Traum war.
Was, wenn sie gleich die Augen aufschlug und sich auf einer stinkenden Matratze in einer fensterlosen Kammer wiederfand, während der Russe über ihr kniete und ihr genüsslich das Messer in den Leib rammte?
Zornig schüttelte sie den Gedanken ab. Ihre Lage war auch so schon schlimm genug, ohne dass sie noch ihr Scherflein dazu beitrug, sich selbst verrückt zu machen.
Der Wagen bog von der Hauptstraße ab, wurde absurderweise schneller, je schmaler die Straße vor ihnen zu werden schien, und schoss dann in eine Gasse hinein, die Lena eindeutig schmaler vorkam als er selbst.
»Du weißt, was ich mit dir mache, wenn der Wagen einen Kratzer abbekommt?«, sagte Louise in freundlichem Ton.
Noras Augen blitzten spöttisch auf. »Es hat gewisse Vorteile, zwanzig Jahre Fahrpraxis zu haben und die Reflexe einer Zwanzigjährigen, alte Frau«, sagte sie. »Und außerdem geht der Motor kaputt, wenn man ihn nicht ab und zu einmal richtig fordert.«
Das galt offensichtlich auch für die Bremsen. Nora trat am Ende der Gasse im allerletzten Moment auf die Bremse und brachte den Jaguar mit kreischenden Reifen zum Stehen. Louise verdrehte die Augen, enthielt sich aber jedes Kommentars,
bis sie ausgestiegen waren. »Zurück fährt Charlotte«, sagte sie dann.
»Das trifft sich«, antwortete Nora fröhlich und warf Charlotte den Wagenschlüssel über das Dach hinweg zu. Charlotte fing ihn auf, ohne hinzusehen. »Die Karre ist mir sowieso zu protzig. Ich steh eher auf was Schnittigeres.«
Louise murmelte etwas, was Nora vorsichtshalber nicht verstand, und warf den Wagenschlag unnötig laut hinter sich zu. Ein Stück hinter ihnen wurde eine Tür geöffnet. Ein grauhaariger Mann in der dunkelblauen Uniform einer Security-Firma trat aus dem matt erleuchteten Rechteck in die Dunkelheit heraus und begrüßte Louise mit einem stummen Kopfnicken. Ein fragender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, als er Lena erblickte. »Eine mehr?«
»Deshalb ist ja hier auch mehr drin.« Louise warf ihm ein Bündel zusammengerollter Banknoten zu, das er in Windeseile in seiner Jackentasche verschwinden ließ.
»Das geht schon in Ordnung, aber denkt bitte daran, nicht wieder …«
»Wir benehmen uns, Liebling«, fiel ihm Nora kichernd ins Wort. »Nur keine Sorge.«
Das Gesicht des Wachmanns sah ganz so aus, als würde er sich durchaus Sorgen machen, aber er hielt ihnen die Tür auf. Dahinter lag ein schmaler, in monotonem Weiß gestrichener Gang, von dem mehrere schmucklose Metalltüren abzweigten. Rechter Hand befand sich eine altmodische Stempeluhr, unter der sich eine unerwartet große Anzahl Stechkarten in ihren Fächern aufreihten - zweihundertdreiunddreißig, dachte Lena und fragte sich, woher sie das eigentlich so genau wusste -, und von der Decke darüber starrte sie das kalte Video-Auge einer Kamera an.
Allzu große Sorgen schien sich Louise jedoch nicht um diese Kamera zu machen. Sie und die anderen gingen einfach fröhlich
plappernd weiter, und der Wachmann schloss die Tür hinter sich sorgsam wieder ab und folgte ihnen. Lena registrierte, dass er jetzt mit völlig leerem Blick in ihre Richtung sah, als wären sie gar nicht da.
Sie gingen eine kurze Treppe hinauf und kamen durch einen zweiten, nicht minder monotonen Gang. Auf halbem Weg passierten sie eine offene Tür, hinter der sich ein kleiner Wachraum mit flimmernden Schwarz-Weiß-Monitoren befand. Auf einem davon war die Gasse zu sehen, in die Nora den Jaguar gerammt hatte, die anderen zeigten rasch wechselnde Bilder, denen sie nicht zu folgen vermochte. Die Luft roch nach kaltem Zigarettenrauch und Kaffee aus der Thermoskanne, und es gab zwei weitere Wachmänner, die aber keinerlei Notiz von ihnen nahmen.
Die Situation kam ihr immer rätselhafter vor. Hatte Nora nicht etwas von Shopping gesagt? Wo denn, bitte schön? Im Keller der Bahnhofsmission?
Auf dem letzten Stück gingen Louise und die anderen wieder langsamer, so dass der Wachmann sie überholen konnte. Er nestelte einen Schlüssel von einem gewaltigen Schlüsselbund und öffnete die Tür vor ihnen.
Dahinter lag eine vollkommen andere Welt. Vor ihnen erstreckte sich eine fußballfeldgroße Halle, die von zahlreichen Tischen, Verkaufsständen und Alkoven in ein blitzendes Archipel aus Messing und Silber und funkelnden Spiegeln und geschliffenem Kristall verwandelt wurde. Die Namensschilder und Displays über den verlassenen Theken lasen sich wie das Who
Weitere Kostenlose Bücher