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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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»Und als gefangen würde ich es nicht bezeichnen.«
    »Wie denn sonst?«
    »Warum gibst du uns nicht die Chance, es dir zu zeigen?«, sagte Louise. »Entspann dich ein bisschen. Ich lege dir was zum Anziehen raus. Wir warten unten in der Lobby auf dich.«

12
    Es war dunkel, als sie ins Schlafzimmer der Suite zurückkehrte. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, das Licht einzuschalten, aber das wäre ihr wahrscheinlich nicht aufgefallen, hätte nicht auf dem runden Tischchen neben dem Bett eine einzelne schwarze Kerze gebrannt, deren Schein ihr in der Dunkelheit fast schon unangenehm grell vorkam.
    Die Vorhänge waren aufgezogen, und die großen Fenster dahinter standen weit offen, um frische Luft hereinzulassen. Für einen Moment stand sie einfach nur da und genoss das Prickeln der kühlen Nacht auf der Haut. Eigentlich sollte es kalt sein. Nachdem sie über eine Stunde in dem heißen Wasser gelegen und darauf gewartet hatte, dass das feindselige Licht hinter dem Glasdach über ihr verblasste, reagierte ihr Körper mit einer heftigen Gänsehaut auf den kühlen Hauch, der hereinströmte, und zu einem Teil empfand sie es als durchaus unangenehm. Aber nur zu einem kleinen Teil, und vielleicht war dieses Unwohlsein im Grunde nicht mehr als eine Erinnerung; sie fror, weil ein Teil von ihr immer noch der Meinung war, es müsse einfach so sein. Kälte und Hitze vermochten ihr nichts mehr anzuhaben.
    Ihr Blick tastete noch einmal über den antiken Tisch und die Kerze. Sie beleuchtete eine dezente schwarze Schachtel, die auf dem Bett lag; so sorgsam arrangiert, als wäre hier die Hand einer begnadeten Innenarchitektin am Werk gewesen. Sie ging
nicht hin, sondern sah sich erst einmal aufmerksam in dem großen Zimmer um. Sie war mit einem Gefühl von allgemeinem Luxus aufgewacht, und die gute Stunde, die sie im Bad gewesen war, hatte diesen Eindruck nur noch bestätigt, aber dieses Zimmer war …
    Nein, ihr fehlten die Worte, um diesen Raum zu beschreiben. Das Schlafzimmer allein musste größer sein als die ganze Dachwohnung, in der sie mit ihrer Mutter lebte, und durch die Tür auf der anderen Seite konnte sie sehen, dass es mindestens noch ein weiteres Zimmer gab. Die Einrichtung war klassisch - 18. oder 19. Jahrhundert, schätzte sie, und garantiert echt -, und der Teppichboden war so weich, dass sie beinahe Angst hatte, beim ersten unvorsichtigen Schritt darin zu versinken.
    Es ist nur Geld, versuchte sie sich einzureden. Ein Zimmer mit teuren Möbeln. Und? Geld hatte ihr noch nie etwas bedeutet. Und sei es nur, weil sie es noch nie in nennenswerter Menge besessen hatte.
    Wieder tastete ihr Blick über das schmale Paket auf dem Bett, aber sie ging auch jetzt nicht hin, sondern trat an das offene Fenster heran, das gar kein Fenster war, sondern eine breite Balkontür, die auf eine großzügig geschnittene Dachterrasse hinausführte. Überrascht zögerte sie, ging dann noch einmal zum Bett zurück, um sich in eines der dünnen Laken zu wickeln, und trat schließlich hinaus.
    Nicht dass es nötig gewesen wäre. Die Gefahr, dass irgendjemand sie hier sah, bestand kaum, denn sie befand sich hoch über den Dächern der Stadt. Und sie wusste jetzt sogar, wo sie war. Auch wenn sie bestimmt eine Minute dastand und auf das pulsierende Herz der Stadt hinuntersah, bis sie sich gestattete, es zu glauben.
    Nur Geld? Also gut, zumindest darüber musste sie noch einmal nachdenken.
    Sie kannte dieses Hotel. Jeder in dieser Stadt (und vermutlich
dem ganzen Land) hatte den Namen schon einmal gehört. Jetzt war sie hier und hatte das Gefühl, dass ihr die Stadt nicht nur scheinbar zu Füßen lag. Die Sonne war gerade erst untergegangen, und unter ihr krochen lange Schlangen winziger blitzender Lichter entlang, sie hörte das Motorengeräusch all der Automobile und Busse und Straßenbahnen und das gleichmäßige Murmeln der nach Millionen zählenden Menschenmenge, die sie umgab, keine einzelnen Laute mehr, sondern das Geräusch eines einzigen gigantischen Lebewesens, dessen Körper sich auf viele Kilometer in jede Richtung erstreckte.
    Seltsamerweise kamen ihr diese Gedanken nicht albern vor. Es war richtig, dass sie hier oben stand und all die anderen dort unten waren. Wenn diese winzigen, hektisch hin und her wuselnden … Ameisen … überhaupt etwas für sie waren, dann allenfalls Beute.
    Plötzlich war ihr doch kalt. Mit einem Ruck wandte sie sich um, trat ins Zimmer zurück und schloss nicht nur die Tür hinter sich, sondern zog auch

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