Wir sind die Nacht
das Geringste.
»Du musst dich nur darauf konzentrieren, dass sie es nicht bemerken, und schon funktioniert’s«, behauptete Nora fröhlich. »Ist im Grunde ganz simpel.«
Lena ächzte. »Simpel?«
»Es klingt komplizierter, als es ist«, sagte Louise. »Irgendwann ist es wie mit dem Autofahren: Du tust es einfach, ohne bewusst darüber nachzudenken, ob du die Kupplung trittst oder schaltest oder den Blinker setzt, verstehst du?«
Lena nickte. »Nein.«
»Alles andere wäre auch gelogen gewesen«, sagte Louise amüsiert. »Lass dir Zeit. Da ist noch eine Menge, was du lernen musst, aber nicht heute.«
»Heute ist Spaß angesagt«, fügte Nora hinzu.
Lena sah sich unbehaglich um. Spaß? Das Geräusch eines großen Motors näherte sich, und ein sichtlich alter, aber tadellos gepflegter Jaguar hielt vor ihnen am Bordstein. Einer der Pagen des Nobelhotels eilte an Louise vorbei und riss die Tür im Fond der Luxuslimousine auf, während sein deutlich jüngerer Kollege aus der Fahrertür stieg, sich so stocksteif aufrichtete, als hätte er den sprichwörtlichen Besenstiel verschluckt, und darauf wartete, dass Nora hinter dem Steuer Platz nahm und ihm ein kleines Bakschisch gab.
Es fiel deutlich größer aus, als Lena selbst bei aller Großzügigkeit angemessen erschien, und sie war sich auch sicher, dass seine Augen nicht nur wegen dieses fürstlichen Trinkgelds aufleuchteten, als Nora an ihm vorbeiging und sich hinter das lächerlich kleine Lenkrad quetschte. Wie es aussah, hatte Nora wohl eine Eroberung gemacht.
Während Charlotte auf dem Beifahrersitz Platz nahm, gestikulierte Louise Lena ungeduldig zu, sich zu ihr auf die Rückbank zu gesellen. Der Wagen setzte sich in Bewegung, kaum dass einer der Pagen die Tür hinter ihr geschlossen hatte. »Wohin fahren wir?«, fragte sie.
»Nicht besonders weit«, antwortete Louise. »Eigentlich könnten wir zu Fuß gehen.«
»Und warum tun wir es dann nicht?«
»Weil es einfach Spaß macht, dieses alte Schätzchen zu fahren«,
sagte Nora. »He, ich muss mich noch bei dir bedanken, Lena. Normalerweise lässt Louise mich nie an ihr Prachtstück.«
Und warum dann heute?, dachte Lena und gab sich sofort selbst die Antwort: Weil sie hier hinten sitzen wollte. Bei ihr. Instinktiv rutschte sie auf dem schweren Ledersitz so weit von ihr fort, wie sie konnte, und Louise tat mit oscarverdächtigem Talent so, als wäre es ihr nicht aufgefallen. Aber egal, wie gut sie ihr Gesicht und ihre Körpersprache auch unter Kontrolle hatte, Lena konnte ihre Enttäuschung spüren.
Lena war verwirrt. Vorhin im Hotelzimmer hatte Louise ganz eindeutig versucht, sie zu verführen. Dann hatte sie sie praktisch von sich gestoßen, und jetzt das? Wenn sie ein Spiel mit ihr spielte, dann eines, dessen Regeln sie nicht verstand.
»Und außerdem gehen wir shoppen, Liebes«, fügte Charlotte hinzu. »Noras Porsche hat einen schrecklich kleinen Kofferraum, der nicht einmal für das Nötigste reicht.«
»Und du willst doch nicht all die vielen Tüten und Taschen tragen, oder?«, sagte Nora.
»Shoppen?«, sagte Lena misstrauisch. Die wenigen Geschäfte, die um diese Uhrzeit überhaupt noch geöffnet waren, schlossen vermutlich genau in diesem Moment. »Wohin?«
»Lass dich überraschen«, sagte Louise. »Es wird dir gefallen.«
Der Jaguar rollte so gut wie lautlos auf die Hauptstraße hinaus. Zu Lenas Überraschung wartete Nora nicht nur geduldig eine Lücke im fließenden Verkehr ab, sondern fuhr so ruhig und vorschriftsmäßig, dass es schon fast wieder auffällig war.
Genau wie Louise es gesagt hatte, war der Weg nicht besonders weit. Sie fuhren vielleicht zehn Minuten über die belebten Straßen, und Lena beobachtete mit einer Mischung aus Staunen und wachsendem Misstrauen die vorübergleitenden Autos und die Spaziergänger, die an den hell erleuchteten Auslagen der Geschäfte entlangflanierten, und ein sonderbares Gefühl
ergriff von ihr Besitz. Sie war schon oft hier gewesen und wusste, dass die Schaufenster hier im gleichen Maße prachtvoller wurden wie die Preisschilder dezenter, bis diese schließlich ganz verschwanden. Sie war oft genug hier gewesen - diese Gegend gehörte zu ihren bevorzugten Jagdgebieten, in denen schon mehr als eine Brieftasche ihren Weg in ihre Jacke gefunden hatte -, aber nun war alles anders. Wie im Hotelzimmer überkam sie ein Gefühl des Unwirklichen, so als wäre sie in einem Traum gefangen, in dem alle ihre geheimen Wünsche in Erfüllung gingen, mit dem
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