Wir sind die Nacht
heftig in die Arme zu schließen, dass ihr die Luft wegblieb.
»Willkommen in der Familie, Kleines.«
Louise schob Nora mit sanfter Gewalt beiseite und maß sie mit einem gespielt tadelnden Blick. »Nun lass sie doch erst einmal zu sich kommen, Nora!«
»Also, ich finde, sie sieht ganz lebendig aus«, antwortete Nora fröhlich, trat aber gehorsam einen Schritt zurück und taxierte Lena. »Und süß«, fügte sie hinzu.
Louise verdrehte die Augen, murmelte etwas, was sich wie Kinder! anhörte, und wandte sich dann mit einem entschuldigenden Blick an Lena. »Ich hätte es anders ausgedrückt, aber sie hat recht. Du siehst umwerfend aus. Gehen wir?«
»Wohin?«, fragte Lena misstrauisch. »In den Club?«
»Der macht erst Punkt Mitternacht auf«, antwortete Nora an Louises Stelle. »Noch eine Menge Zeit, um die Stadt aufzumischen.«
»Ja, und auch das hätte ich vielleicht anders ausgedrückt«, seufzte Louise, wirkte aber eher amüsiert als verärgert.
»Ich … habe keine Schuhe«, sagte Lena unbehaglich.
»Mein armes Aschenputtel«, antwortete Louise. »Dann müssen wir sehen, dass wir so schnell wie möglich etwas daran ändern.« Sie zwinkerte ihr zu. »Gehen wir zuallererst in ein
Schuhgeschäft? Ich meine: Es dürfen doch richtige Schuhe sein, oder bestehst du auf diesen schrecklichen Turnschuhen, die ihr Kinder heute so sehr zu lieben scheint?«
»Jetzt mach dich nicht über sie lustig«, tadelte Nora sie. »Die Dinger sind praktisch …« Sie feixte breit. »Wenn auch wirklich hässlich.«
»Habe ich schon erwähnt, dass du zu viel redest, Nora?«, sagte Charlotte.
»Mehrmals. Aber du …«
»Schluss jetzt, ihr zwei!«, sagte Louise. »Das ist ja nicht auszuhalten! Kommt!« Sie blinzelte Lena jetzt eindeutig verschwörerisch zu, hob aber zugleich auch die Hand und gab jemandem auf der anderen Seite des Raums einen Wink. Nun stand auch Charlotte auf. Ihr Kleid raschelte, und Lena beschäftigte sich einen Augenblick lang mit der Frage, wieso das Ding Charlotte eigentlich nicht von den Schultern rutschte, ohne dass sie es vorher festgetackert hatte.
Sie gingen zum Ausgang. Auf dem Weg dorthin kamen ihnen Lenas Freunde aus dem Lift entgegen, und sie erinnerten sich offenbar sehr gut an sie. Die Frau strafte sie mit einer eisigen Verachtung, die niemand im Umkreis von anderthalb Lichtjahren übersehen konnte. Ihr Begleiter maß sie nur mit einem scheuen Blick und sah dann entsetzt weg. Lena war anscheinend nicht die Einzige, der auffiel, wie viel Mühe es ihn kostete, nicht einfach loszurennen.
»Freunde von dir?«, fragte Charlotte.
»Ich habe keine Ahnung, wer das ist«, sagte Lena.
Louise schenkte ihr einen schrägen Blick, und Nora sagte: »Noch so klein, und schon hat sie Geheimnisse vor uns. Sollten wir jetzt nicht böse auf sie sein, Mami?«
Zumindest Mami - Louise - wirkte wirklich verärgert und bedachte Nora mit einem entsprechenden Blick, fing sich aber sofort wieder und schüttelte nur schweigend den Kopf.
Als sie durch die große Drehtür schritten, fiel es Lena abermals auf: Das Glas war von hervorragender Qualität und staubfrei sauber, aber die Dunkelheit auf der anderen Seite verwandelte auch die Drehtür in einen großen, sich bewegenden Spiegel, auf dem das Foyer mit all seinen Möbeln und Menschen so deutlich wie auf einem blassen Foto zu erkennen war. Nur sie selbst, Louise, Charlotte und Nora waren nicht da. Wieso fiel das eigentlich niemandem außer ihr auf?
»Du musst dich nur darauf konzentrieren, dass sie es nicht merken«, sagte Louise.
Lena sah sie verständnislos an. »Was?«
»Unsere Spiegelbilder.« Louise deutete auf die drei Meter große Scheibe vor sich.
»Wir haben keine«, antwortete Lena lahm.
»Eben.« Louise trat vor ihr ins Freie und dann einen Schritt zur Seite, um Platz für Charlotte und Nora zu machen, die den Abschluss bildeten. »Und jetzt fragst du dich, warum das niemandem auffällt.«
Vor allem fragte sie sich, woher Louise das wissen konnte.
Nora lachte. »Das geht jedem so, wenn er die Sache mit dem Spiegel erst mal richtig kapiert, Kleines«, sagte sie. »Der Rest der Menschheit ist schließlich weder blöd noch blind. Eigentlich müssten sie es sehen, nicht wahr?«
»Tun sie auch«, fügte Charlotte hinzu. »Aber sie denken sich nichts dabei.«
»Weil wir das nicht zulassen«, schloss Louise.
Einmal ganz davon abgesehen, dass Lena immer mehr das Gefühl hatte, von den dreien kräftig auf den Arm genommen zu werden, verstand sie nicht
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