Wir sind die Nacht
Wahl?«, fragte Lena.
»Man hat im Leben immer die Wahl, Liebes«, antwortete Louise. »Es dauert eine Weile, bis sich dein Körper vollständig transformiert hat. Ein paar Tage, eine Woche …« Sie hob die Schultern. »Es ist bei jedem anders. Aber viel Zeit bleibt dir nicht, um dich zu entscheiden.«
»Dann könnte ich noch … zurück?«, fragte Lena ungläubig.
Louise nickte. »Ich will dir nichts vormachen. Es wird nicht leicht. Was du gestern gespürt hast, ist nichts gegen das, was dir bevorsteht, wenn du den Prozess abbrichst. Du würdest durch die Hölle gehen, aber wahrscheinlich könntest du es schaffen.«
»Wahrscheinlich?«, sagte Lena. »Könntest?«
»Du könntest auch sterben«, antwortete Louise wie beiläufig. »Aber das könntest du auch, wenn dich ein betrunkener Autofahrer auf der Straße erwischt. Die Wahrscheinlichkeit ist ungefähr genauso hoch.« Sie verzog die Lippen. »In einer Stadt wie dieser wahrscheinlich sogar höher.«
»Aber das Risiko besteht?«, fragte Lena unbehaglich.
»Das Leben an sich birgt das Risiko, selbiges zu verlieren«, antwortete Louise mit unheilschwangerer Stimme. Aber das amüsierte Funkeln in ihren Augen verriet sie.
»Eine uralte Vampir-Weisheit, von einer Generation an die nächste weitergegeben?«, sagte Lena.
»Ja. Könnte aber auch sein, dass sie aus einem chinesischen Glückskeks stammt. Spielt das denn eine Rolle?«
Wahrscheinlich nicht. Lena stand auf, wobei sie sorgsam darauf achtete, dass ihr das dünne Laken nicht herunterrutschte. Louise wandte sich mit einer einladenden Geste um und steuerte eine zweiflügelige Tür auf der anderen Seite des Raums an.
Dahinter lag das größte Badezimmer, das Lena jemals gesehen hatte. Schwarzer Marmor und blitzende Armaturen, überall waren Chrom und Gold. Es gab kein Fenster, dafür aber ein pyramidenförmiges Glasdach im Jugendstil, durch das helles Tageslicht hereinströmte, das Lena nach dem Halbdunkel auf der anderen Seite nicht nur blinzeln ließ, sondern auch erschrocken innehalten.
Louise lachte. »Nur keine Angst«, sagte sie. »Es ist nur Licht. Es tut dir nichts.«
»Aber ich dachte …«
»Dass wir in Flammen aufgehen, wenn wir ins Tageslicht treten? Ein dummer alter Aberglaube. Es ist nur die Sonne, vor der wir uns in Acht nehmen müssen. Wir sind Geschöpfe der Sonne. Sie ist es, die uns erschaffen hat, und etwas in uns will zu ihr zurück.«
Das klang so grotesk, dass Lena am liebsten laut aufgelacht hätte. Aber dann musste sie an gestern denken, an den Schmerz, mit dem das Sonnenlicht ihr Fleisch verbrannt hatte, an die winzigen goldenen Funken, in die sich ihre Haut aufgelöst hatte, an den verspielten, aber trotzdem so zielsicheren Tanz, mit dem diese sich dem Loch in der Gardine genähert hatten; so als wäre da auf der anderen Seite des Glases etwas, was sie mit unwiderstehlicher Macht rief.
»Ist das … auch aus einem chinesischen Glückskeks?«, fragte sie unsicher.
»Wie unromantisch«, tadelte Louise sie. »Aber bitte, wenn
du auf einer wissenschaftlichen Erklärung bestehst: Für uns sind nur die UV-Strahlen gefährlich, nicht das Licht an sich.«
Lena rührte sich nicht von der Stelle und sah sie nur zweifelnd an. Louise trat an ihr vorbei, blieb direkt unter dem großen Glasdach stehen und drehte sich mit ausgebreiteten Armen einmal um sich selbst. »Siehst du?«
»Dann können wir uns davor schützen?«, fragte Lena.
»Mit Sonnenschutzcreme, Lichtschutzfaktor fünfzigtausend.« Louise nickte, lachte dann hell und trat an die swimmingpoolgroße Badewanne, um Wasser einzulassen. Die Armaturen sahen aus, als stammten sie vom Hofe Kaiser Wilhelms, aber sie spuckten auf einmal dampfend heißes Wasser, ohne dass sie etwas berühren musste. »Voilà«, sagte sie strahlend. »Wenn das keine Zauberei ist …« Lena blickte weiter zweifelnd, und Louise machte wieder ein strafendes Gesicht. »Also gut, vielleicht sind es auch Bewegungssensoren und ein perfekt programmierter Computer. Habe ich dir schon gesagt, dass du unromantisch bist?«
»Ja.«
»Gut«, sagte Louise. »Und um deine Frage zu beantworten: Nein, wir können tagsüber nicht ins Freie. Das da«, sie deutete zum Glasdach hoch, »ist harmlos, weil die Sonne weitergewandert ist und gleich untergeht. Aber es wäre viel zu riskant, ins Freie zu gehen. Eine einzige falsche Bewegung, ein geplatzter Reifen, ein Verkehrsstau …«
»Dann seid ihr in der Nacht gefangen?«
»Wir«, verbesserte sie Louise automatisch.
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