Wir sind die Nacht
die Vorhänge zu, als könnte sie auf diese Weise auch die erschreckenden Gedanken aussperren, die doch in Wahrheit aus ihr selbst kamen.
Sie versuchte Louise die Schuld an dem zu geben, was mit ihr geschah - schließlich hatten sie und ihre beiden verrückten Freundinnen (ihre Mädchen, wie sie sie nannte) sie ja erst in diesen ganzen Wahnsinn hineingezogen -, aber es wollte ihr nicht so recht gelingen. Hatten sie das wirklich getan? Oder hatten sie nur etwas in ihr geweckt, was die ganze Zeit über schon da gewesen war?
Sie spürte im letzten Moment die Falle, in die zu tappen sie im Begriff stand, trat ans Bett heran und fegte den Deckel des schwarzen Kartons mit so übertriebener Kraft herunter, dass die Kerzenflamme erlosch. Trotzdem konnte sie genauso gut sehen wie zuvor und starrte das kostbare dunkle Kleid an, das in der Schachtel zum Vorschein gekommen war.
Auf den ersten Blick wirkte es schlicht, aber das war nur ein Trick, der die Hand des meisterhaften Schneiders verriet, und auf den zweiten … war es das Wundervollste, was sie jemals gesehen hatte, ein Traum in fast magisch changierendem Schwarz, den sie nicht erst anziehen musste, um zu wissen, dass er ihr so perfekt passte, als wäre er ihr auf den Leib geschneidert worden. Unglaublich teuer und vermutlich ein Einzelstück, aber weder das eine noch das andere war es, was Lena so tief berührte, dass sie beinahe aufgestöhnt hätte. Es war der Umstand, dass dieses Kleid für sie gedacht war. Sie hatte es weder gestohlen noch (mit gestohlenem Geld) bezahlt oder es sich irgendwie selbst besorgt. Jemand hatte es ihr geschenkt. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, über sie nachzudenken, sich Gedanken darüber gemacht, was ihr gefallen könnte und zu ihr passte, und ihr schließlich dieses Geschenk gemacht, und es spielte letzten Endes keine Rolle, ob es sich um ein teures Einzelstück aus einer angesagten Design-Schmiede handelte oder ein Kleid vom Wühltisch im Penny-Markt. Es war ein Geschenk, für sie ganz persönlich, und noch nie hatte ihr jemand etwas geschenkt.
Bewundernd strich sie mit den Fingerspitzen über das Kleid, nahm es schließlich so behutsam aus der Schachtel, als hätte sie Angst, der kostbare Stoff könnte unter ihren Fingern einfach zerrinnen, und entdeckte darunter schwarze, nicht minder kostbare Unterwäsche.
Rasch schlüpfte sie hinein, streifte auch das Kleid über und eilte dann ins Bad, um sich im Spiegel zu betrachten.
Er blieb leer. Weder sie noch das Kleid waren in dem beschlagenen Glas zu sehen.
Warum war sie eigentlich enttäuscht? Jedermann wusste schließlich, dass Vampire im Spiegel nicht sichtbar waren. Nur diesen Traum von einem Kleid im Spiegel zu sehen wäre schließlich auch nicht besonders beruhigend gewesen.
Lena kicherte über ihren albernen Gedanken, ging ins Schlafzimmer
zurück und durchquerte mit schnellen Schritten auch den angrenzenden Raum, der genauso kostbar eingerichtet war; antike Möbel, zwei gewaltige Sitzgarnituren und eine Bar, ein offener Kamin und an der Wand darüber der größte Plasmafernseher, den sie jemals gesehen hatte … Louise und ihre beiden Mädchen wussten zu leben, so viel stand fest.
Bei ihrem neuen Outfit waren keine Schuhe dabei gewesen, und sie fand auch keine in der kleinen Garderobe, die zu der Suite gehörte. Also verließ sie das Zimmer barfuß, fand sich auf einem schmalen Gang mit lediglich vier Türen wieder, steuerte mit schnellen Schritten den Lift an seinem Ende an und hatte aus irgendeinem Grund plötzlich das Gefühl, besser die Treppe zu nehmen. Trotzdem hob sie die Hand, drückte den Rufknopf und trat dann in die an drei Seiten verspiegelte Kabine, nachdem die Tür beiseitegeglitten war.
Als der Aufzug in der dritten Etage anhielt, wusste sie, dass sie lieber auf ihre innere Stimme hätte hören sollen. Die Tür schnurrte auf, und ein älteres Paar trat zu ihr herein, elegant gekleidet und in ein so intensives Gespräch vertieft, dass die beiden im ersten Moment kaum Notiz von ihr nahmen.
Im zweiten Stock drängelte sich Lena so unsanft zwischen ihnen hindurch, dass die Frau ein empörtes Schnauben ausstieß und ihr vermutlich gern etwas nachgerufen hätte, was sich ganz gewiss nicht mit ihrer zweifellos guten Kinderstube vereinbaren ließ. Lena quetschte sich im letzten Moment durch die zugleitende Tür und jagte im Sturmschritt davon. Allerdings sah sie noch einmal über die Schulter zurück, bevor sich die Tür schloss. Ihr Blick begegnete dem des
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