Wir sind die Nacht
hatte ich vorhin aber einen anderen Eindruck.« Louise hob sofort die Hand und machte eine abwehrende Geste. »Aber jetzt ist nicht der richtige Moment, um darüber zu reden. Wir sollten nicht zu lange hierbleiben, sonst bekommt der arme Franz am Ende unseretwegen noch Ärger, und das wollen
wir ja schließlich nicht.« Sie wandte sich an Nora. »Wo ist Charlotte?«
»In der Buchabteilung, nehme ich an. Wo sie immer ist … Soll ich sie holen?«
Louise schüttelte den Kopf. »Geh zur Hauptkasse, und regle das Finanzielle«, sagte sie. »Lena und ich holen Charlotte.« Sie hob eines der vier Paar Schuhe in die Höhe. »Und die hier nehmen wir auch noch.«
Nora warf einen flüchtigen Blicke auf das Preisschild und verschwand.
Lena war nun vollends verwirrt. »Das … Finanzielle?«
»Hast du gedacht, wir stehlen das alles hier?«, erwiderte Louise. Sie wirkte ehrlich verblüfft.
Lena nahm ihr die Schuhe ab, schlüpfte hinein und stellte fest, dass sie nicht nur fantastisch aussahen, sondern auch perfekt passten. Tief in sich auf einer Ebene, die keinerlei Beweises bedurfte, wusste sie, dass das in Zukunft immer so sein würde: Was immer sie anzöge, passte ihr so perfekt, als wäre es nur für sie gemacht.
»Um ehrlich zu sein, ja«, antwortete sie.
»Aber das wäre ziemlich dumm, meinst du nicht auch?«, sagte Louise. Sie kam um die Theke herum und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung, ihr zur Rolltreppe zu folgen. »Davon einmal ganz abgesehen, dass das alles hier irgendjemandem gehört und nicht einfach so vom Himmel gefallen ist, würden der gute Franz und seine Kollegen ziemlich schnell Ärger bekommen, wenn immer in ihrer Schicht irgendwelche Luxusgüter verschwinden.«
Das aus dem Mund einer Frau zu hören, die davon lebte, anderen das Blut auszusaugen, kam Lena einigermaßen seltsam vor. »Das heißt, ihr … bezahlt für das alles?«, fragte sie zweifelnd.
»Und ein gutes Stück mehr, als das Zeug eigentlich kostet«,
bestätigte Louise, die ihr Erstaunen anscheinend amüsierte. »Solange die Kasse stimmt, stellt niemand dumme Fragen. Und es ist immer noch angenehmer, als am hellen Tag hierher zu kommen. Außerdem macht es mehr Spaß.«
Lena versuchte flüchtig nachzurechnen, wie viel Geld Louise innerhalb der letzten halben Stunde ausgegeben haben musste, nur um sich an ihrem Anblick zu erfreuen, gab den Versuch aber wieder auf.
»Und es wäre auch ziemlich dumm, überall in der Stadt eine Spur von mysteriösen Diebstählen zu hinterlassen«, fuhr Louise fort. »Wir legen keinen Wert darauf, unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Es ist sehr viel dezenter, Dinge zu kaufen, statt sie zu stehlen.« In ihren Augen blitzte es spöttisch auf. »Ich dachte eigentlich, du wüsstest das.«
»Und das da?« Lena deutete auf eine der zahlreichen Kameras unter der Decke. »Bekommen Franz und seine Kollegen deshalb keinen Ärger?«
Louise lachte. »Selbst wenn sie uns sehen könnten, wären wir für sie wahrscheinlich nur drei durchgeknallte Luxustussis, die Spaß daran haben, Bonnie und Clyde zu spielen, und nachts auf Raubzug gehen, weil sie den Thrill brauchen. Solange du in dieser Stadt bezahlst, kannst du hier so ziemlich alles tun, was du willst.«
»Selbst wenn?«, fragte Lena.
»Sie können uns nicht sehen«, sagte Louise. »Es ist dasselbe wie mit den Spiegeln. Niemand kann uns filmen. Weder auf Zelluloid noch digital oder sonst wie. Und nein, frag mich gar nicht erst, ich weiß nicht, wieso das so ist. Aber es ist sehr praktisch. Es macht einem das Leben leichter.«
»Das Leben als Vampir?«
»Auch das. Du hattest doch schon das Vergnügen, mit Nora zu fahren. Hast du dich gar nicht gefragt, warum sie keine Angst um ihren Führerschein …«
Lena packte Louise am Handgelenk und hielt es mit so überraschender Kraft fest, dass Louises Mundwinkel zuckten. »Wer seid ihr?«, fuhr sie sie an. »Was seid ihr?«
Für die Dauer eines schweren Atemzuges trafen sich ihre Blicke, und etwas … war in Louises Augen, etwas Neues und Lauerndes, Taxierendes.
Ganz langsam und sanft, aber dennoch mit einer Kraft, der sie nicht das Mindeste entgegenzusetzen hatte, hob sie den Arm, drehte ihr Handgelenk aus Lenas Griff und lächelte dann plötzlich.
»Wir , Lena«, sagte sie sanft. »Nicht ihr. Und es ist anders, als du glaubst.«
»Dann erklär es mir endlich«, sagte Lena.
»Nicht hier. Und nicht jetzt. Dich erwartet eine Welt voller Wunder, und die ist nicht annähernd so schlimm, wie du wahrscheinlich
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