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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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glaubst. Willst du die Kurzfassung in fünf Sätzen, die du mir sowieso nicht glauben würdest, oder gibst du mir die Chance, es dir zu zeigen?«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, trat Louise von der Rolltreppe herunter und wandte sich nach rechts. Lena musste sich beeilen, um nicht zurückzufallen; was ihr in den ungewohnten Schuhen schwer genug fiel. Natürlich war nichts davon Zufall, das war Lena vollkommen klar. So wenig, wie Louise daran glaubte, dass es so etwas wie nur Zufall gab, so wenig war irgendetwas von dem, was sie tat, willkürlich. Louise manipulierte sie, und dieser Gedanke sollte sie eigentlich sehr wütend machen.
    Aber er tat es nicht.
    Sie durchquerten die komplette Etage. Vor ihnen lag nun eine großzügig gestaltete Medienabteilung, in der von Büchern über DVDs, Computerspielen und Musik-CDs bis hin zu modernen E-Book-Readern alles angeboten wurde. Von Charlotte war keine Spur zu sehen, aber Louise steuerte zielstrebig eine
mit einem bunten Pappmaschee-Tor voller pausbäckiger Putten, geflügelter Einhörner und putziger Elfen abgetrennten Bereich an. Die Kinder- und Bilderbuchabteilung, wie Lena vermutete. Sie selbst hätte Charlotte eher in der Ecke für Klassiker erwartet (falls es hier so etwas gab), zwischen Regalen voller ledergebundener Schinken mit Lesebändchen und Goldschnitt, aber Louise schien zu wissen, was sie tat.
    »Warte hier«, sagte sie. »Ich bin gleich zurück.«
    Lena blieb gehorsam stehen … allerdings nur so lange, bis Louise durch das bunte Tor verschwunden war. Dann folgte sie ihr vorsichtig, neugierig, welch bizarrer oder auch erschreckender Anblick auf der anderen Seite wohl auf sie warten mochte.
    Alles, was sie sah, war eine bunte Spielwelt, in der Bücher zwar vorherrschten, die aber auch von jeder Menge Papp- und Plüschfiguren bevölkert wurde, bunten Mobiles und Puppen, einer Spielecke mit weichen Bällen und auf Zigarrenkistengröße aufgeblasenen Legosteinen. Im allerersten Moment glaubte sie, Louises scharfe Sinne hätten sie vielleicht doch getäuscht, denn von Charlotte war nichts zu sehen, aber dann hörte sie gedämpfte Stimmen. Sie schlich auf Zehenspitzen in ihre Richtung. Wenn doch alles so ganz anders war, wie Louise behauptet hatte, wieso hatte sie dann Geheimnisse vor ihr?
    Die Stimmen wurden lauter. Louise redete in einer Sprache, die Lena nicht verstand, aber es war kein Streit, wie sie im allerersten Moment angenommen hatte. Louises Stimme klang zwar eindringlich, fast schon beschwörend, aber zugleich auch auf sonderbare Weise sanft. Sie war verwirrt. Um ein Haar hätte sie kehrtgemacht, um vor dem großen Tor zum Märchenland auf Louise zu warten. Vielleicht gab es ja einen guten Grund dafür, dass sie sie darum gebeten hatte.
    Aber dann ging sie doch weiter.
    Die Buchabteilung hatte einen zweiten, ganz mit rosa Plüsch eingefassten Ausgang, der in eine Baby- und Kleinkinder-Boutique
führte, in der Pink und Himmelblau die einzigen Farben zu sein schienen. Die dezente Tangomusik, die noch immer aus den Lautsprechern drang, wirkte hier ein bisschen unpassend, vor allem als sie durch das Barbie-Tor trat und Louise sah, die weiterhin in jener fremden Sprache auf Charlotte einredete. Ihre Bewegungen wirkten genauso seltsam: energisch und sanft in einem, folgten sie vermutlich ganz unbewusst den rhythmischen Klängen der Musik, was sie fast zu so etwas wie einem Tanz machte. Es sah … unwirklich aus.
    Dann fiel Lenas Blick auf Charlottes Gesicht, und dieser Anblick war noch viel erstaunlicher, fast schon erschreckend. Charlotte stand vor einem Regal mit Babykleidung. Sie wirkte verkrampft, und was auf ihrem Profil abzulesen war, ließ sich zwar unmöglich deuten, war aber nichts Gutes. Mit den Händen knetete sie ein Paar winzige rosafarbene Babyschuhe.
    Lena bewegte sich neugierig weiter, stieß dabei an eines der Regale und warf ein Buch um. Auf die große Entfernung und noch dazu unter den aufpeitschenden Tangoklängen hätte das Geräusch untergehen müssen, aber Louise wandte mit einem Ruck den Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunde schnappte ihr Körper in die sprungbereite Haltung einer Raubkatze, die sich unversehens einem gefährlichen Feind gegenübersah: geduckt und die Arme halb ausgebreitet, mit leicht gespreizten Beinen und plattfüßigem festem Stand, eine Mischung aus instinktiver Abwehrhaltung und Karate-Grundstellung, und die Hände wie Raubvogelklauen geöffnet und zum Zupacken und Zerreißen bereit. Bestimmt war es nur

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