Wir sind die Nacht
Einbildung, aber für einen kurzen Augenblick glaubte Lena tatsächlich, mörderisch scharfe Krallen daran zu erkennen.
Dann entspannte sich Louise wieder. Die tödliche Drohung, die von ihrer Haltung ausging, war verschwunden, die Krallen fort (es hatte sie auch nie gegeben, das war lächerlich!), und aus dem rasenden Zorn auf ihrem Gesicht wurde ganz normaler
Ärger. Mit einer herrischen Geste bedeutete sie ihr zu verschwinden und wandte sich dann wieder an Charlotte.
»Was ist los?«, erklang Noras Stimme hinter Lena, aufgekratzt und fröhlich wie immer. Sie fuhr viel erschrockener zusammen, als sie sich selbst erklären konnte, drehte sich auf dem Absatz herum und sah das dunkelhaarige Mädchen auf sich zukommen. Nora war schwer beladen mit zahlreichen Einkaufstüten und -taschen, in denen eindeutig mehr war als die Verpackung einer Versace-Tasche und einer Rolex, und strahlte über das ganze Gesicht.
Als sie den Ausdruck auf Lenas Gesicht sah, stockte sie und legte misstrauisch den Kopf auf die Seite. Dann setzte sie ihre Beute ab und ging mit schnellen Schritten an ihr vorbei.
»Oh«, sagte sie.
»Was - oh?«, fragte Lena.
»Nichts«, antwortete Nora. Sie war keine besonders gute Lügnerin. Sie stand einfach nur da und sah Louise und Charlotte an, dann drehte sie sich mit einem Ruck zu Lena um. Nun hatte sie sich wieder in der Gewalt, und das gewohnte fröhliche Jungmädchenlächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Nichts«, sagte sie. »Familienkram.«
»Ja, genau so sieht es aus«, antwortete Lena.
»Und genau so ist es auch«, beharrte Nora. »Manchmal gibt es eben Dinge, die nur die Familie etwas angehen. Jeder hat doch seine kleinen schmutzigen Geheimnisse, oder?«
»Ich dachte, ich gehöre jetzt zur Familie.«
»Aber, aber«, sagte Nora spöttisch. »Noch bist du in der Bewährungsphase … Aber keine Angst, ich bin mir ziemlich sicher, dass du die bestehen wirst.« Sie nahm ihre Taschen wieder auf. »Natürlich nur, wenn du mir hilfst, all diesen Kram zum Wagen zu tragen … Unglaublich, wie viel Verpackung man braucht, um so wenig Zeug an den Mann zu bringen.«
»Wohl eher an die Frau«, sagte Louise plötzlich. »Plappert
unser kleines Dummerchen wieder aus dem Nähkästchen?« Sie war zurückgekommen, ohne dass Lena es bemerkt hatte, und was immer gerade zwischen Charlotte und ihr gewesen sein mochte, nichts davon war ihr noch anzumerken. Ihre dunklen Augen funkelten spöttisch, während sie Nora und Lena abwechselnd musterte. »Hast du alles bezahlt, Liebes?«
»Auf Heller und Pfennig«, bestätigte Nora. Sie machte ein angestrengt nachdenkliches Gesicht und fügte leise hinzu: »Oder sagt man Cent und … was eigentlich?«
Lena blickte verwirrt von ihr zu Louise, dann zu Charlotte und wieder zurück. Irgendetwas ging hier vor, von dem sie nichts wissen sollte. Seltsamerweise verletzte sie das. Sie fühlte sich ausgeschlossen, und dieses Gefühl ärgerte sie - obwohl sie sich andererseits ganz und gar nicht sicher war, ob sie überhaupt dazugehören wollte.
»Lasst uns verschwinden«, sagte Charlotte. »Ich habe Hunger.« Sie wandte sich an Lena. »Hast du ein Lieblingsrestaurant, Lena?«
»McDonald’s am Hermannsplatz?«, erwiderte Lena, ebenso automatisch wie verwirrt. Hunger? Als sie das letzte Mal in den Kühlschrank ihrer Mutter gesehen und die ganzen Lebensmittel darin erblickt hatte, war ihr schon bei dem bloßen Gedanken schlecht geworden, etwas davon zu essen; und sie hatte das sehr sichere Gefühl, dass diese Reaktion nicht nur an der unappetitlichen Zusammenstellung gelegen hatte.
»Du bist ja ein richtiger Gourmet!«, sagte Charlotte spöttisch.
»Essen wir denn?«, fragte Lena.
»Nur zu unserem Vergnügen«, antwortete Louise an Charlottes Stelle.
»Aber ich dachte …«, begann Lena, und Nora drehte sich in einer Pirouette halb herum und fiel ihr ins Wort: »… dass wir auf alle weltlichen Freuden verzichten müssen, nur weil wir sie nicht mehr unbedingt brauchen?« Sie schüttelte so
heftig den Kopf, dass sie beinahe eine ihre Tüten fallen lassen hätte.
»Hab ich dir schon einmal gesagt, dass du kaufsüchtig bist, Liebes?«, sagte Louise.
»Mehrmals«, antwortete Nora und fuhr dann unbeeindruckt an Lena gewandt fort: »Wir fressen, saufen, koksen und vögeln, so viel wir wollen, und werden weder fett noch schwanger oder süchtig! Das nenne ich mal einen guten Tausch, du nicht?«
Lena blickte abermals verwirrt von einer zur anderen. Sie verstand immer weniger, was
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