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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Hauptfiguren, auf einem Riesenschiff auf dem Großen Ozean lebten, umgeben von märchenhaftem Reichtum und einer unausdenklichen Bequemlichkeit. Die Erzählungen wurden auch manchmal dramatisch. Es gab Kampf mit feindlichen Seeräubern, die wir sodann besiegten und mit einer rätselhaften Grausamkeit bestraften. Haßten wir im Dorf wen, so wurde er in die Geschichte hineinverwoben und auf irgendeine Weise gefangen. Dann kam ein entsetzliches Rachegericht. An den schönen Sonntagnachmittagen fuhr Maurus mit dem Rad fort, suchte ein ungestörtes Sonnenplätztchen im Walde auf und las mir aus Büchern vor. Ibsens Dramen, Kleists Novellen und vor allem immer wieder Shakespeare lernte ich dadurch immer genauer kennen. Dann kamen die Russen, Tolstoj hauptsächlich, und Heine und Lessing. Maurus brachte die Stücke warm heraus, und meine Begeisterung, das Wettlesen und das Triumphieren über den anderen, wenn man etwas kannte, was dieser noch nicht gelesen hatte, begann von neuem. Nunmehr bewog ich auch Anna dazu, Bücher zu lesen, und unsere Brotgänge wurden immer länger. Sehr oft gab es dann Prügel von Max.
    Als wir einmal heimkamen, stritten sich Maurus und Max. Warum, wußten wir nicht. Immer lauter schrien sie und kamen auf einmal in ein Handgemenge. Ein furchtbares Raufen begann, und erst als Maurus blutig an der Wand lehnte, ließ Max von ihm, ging hinauf und zog sich an, denn es war Dienstag, und er mußte in die Gesangstunde des Gesangvereins. Gesiegt hatte trotzdem keiner. Anna und ich gingen zu Maurus, sahen ihn vielsagend an und ballten die Fäuste: »Das muß er büßen, der Hund!« Vor Wut schluchzte Maurus laut auf, faßte sich dann und wusch sich am Brunnen. Am selben Abend noch fuhr er zur Stadt, und lange kam keine Nachricht von ihm. Max war nun wieder Alleinherrscher und verstand es, alle unbequemen Geschwister aus dem Haus zu drängen. Eugen fuhr nach seiner Militärentlassung nach Amerika, und meine Schwester Theres machte es wie Emma. Sie erlernte ebenfalls in der Stadt den Modistinnenberuf. Das Hausbild hatte sich geändert. Außer Mutter, Anna und mir war eine Magd da, der Geselle Vogel und Max, dessen Befehle fast willenlos vollzogen wurden. Auch den General Vogel erreichte eines Tages das Schicksal. Einmal fuhr er in die Stadt, betrank sich derart, daß er im Zuge einschlief und bis nach Tutzing fuhr. Dort mietete er spät nachts eine Kutsche und kam früh um zwei Uhr bei uns an. Er war nicht imstande, noch zu arbeiten, und ich allein konnte nicht alles bewältigen. Er lag da und schlief schnarchend. Ab und zu stieß er einen keuchenden Schrei aus. Ich mußte Max wecken, und wir buken das Brot. Am andern Tag wurde Vogel entlassen. Er weinte wie ein Kind, denn er war gerne bei uns. Aber es ging nicht mehr. Ein anderer Geselle wurde eingestellt. Der schlug mich wieder mehr als alle vorhergegangenen. Ich hatte keine Hilfe mehr, keinen Menschen, dem ich meine nächtlichen Qualen klagen konnte. Max durfte überhaupt nichts hören davon, Mutter antwortete auf mein Jammern mit einem leisen, hilflosen Weinen, und Anna konnte nicht helfen. Nur ein Mensch war im ganzen Hause, der manchmal auf mich einging, wenn auch fast unvermerkt, so doch fühlbar: die Magd Leni.
    Einmal in der Frühe lehnte ich mit blutigem Kopf an der Anrichte in der Küche und weinte leise in mich hinein. Mutter sagte nur: »Wenn bloß ein einzig's Mal eine Ruh' war'« und ging in den Laden. Dies knickte mich noch mehr. Leni kam zur Tür herein, wollte an den Herd gehen und sah mich.
    »Was hast denn, Oskar? Du blutest ja?« fragte sie nähertretend. »Geschlagen hat er mich, daß ich ganz dumm bin«, sagte ich. Leni ging kopfschüttelnd an den Herd und sagte, mir den Rücken zugewendet: »Der Grobian!« Nur ein Wort war es. Aber es kam etwas bis dahin vollkommen Fremdes aus dem Tonfall, etwas anheimelnd Tröstendes. Als sie aus der Küche treten wollte, blieb sie wieder vor mir stehen und sagte ebenso: »Bei uns ist's der Vater gewesen«, und verschwand. Ich ging an den Brunnen und wusch mich. Dieser letzte, kurze Satz hatte das ganze Leben eines Gleichleidenden und Begreifenden aufgedeckt. Als träte wer aus dem Dunkel der Verschwiegenheit an mich heran und sagte: »Siehe, ich hab' auch so gelitten!«
    Ein Glück sprang auf in mir, eine unsägliche Tröstung, mußte täglich, wenn ich vom Brotaustragen heimkam, mit Leni Häcksel schneiden. Sie legte ein, und ich trieb das Schwungrad der Maschine. Wir freuten uns jedesmal, wenn wir

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