Wir sind Gefangene
etliche Krawatten und den Hut. Das war eine Arbeit von drei Sonntagnachmittagen gewesen, gefährlich und erregend. Wir hüpften vor Triumphgefühl, als alles aufs beste funktionierte, schlichen zum Schuhmacher und holten nacheinander unsere Klassiker, richteten sie schön nebeneinander in unser Geheimfach, die goldenen Rücken strahlend nach vorne. Während wir bis dahin meistens brummige Gesichter schnitten, wenn wir unverhofft noch einen Brotgang machen mußten, waren wir jetzt auf einmal sehr zugänglich, ja sogar erfreut. Schnell schlich einer von uns hinauf, holte heimlich ein Buch heraus, versteckte es unter den Kleidern, und rasch entfernten wir uns. Erst am Dorfausgang, wenn kein Mensch mehr zu sehen war, ging das Lesen an. Meistens lasen wir uns laut vor, wenn es Verse waren. Bei Prosa trennten wir uns und verabredeten einen Platz, wo wir uns wieder trafen. Ob das, was wir lasen, verstanden wurde, war gleichgültig. Maßgebend war, daß wir es gelesen hatten und alles kannten. Die Fülle machte es.
Wir begeisterten uns. Der Klang der Worte berauschte uns. Viele, viele Verse konnte ich zuletzt auswendig, Schillers Glocke rann mir bloß so von den Lippen. Und eines Tages las ich Nanndl mein erstes Gedicht vor. Selbstverständlich sagte ich es mit einem solchen Pathos, daß alle anderen Dichtwerke dagegen nur noch wie klägliche Versuche waren, und natürlich wirkte das. Nanndl lobte es sehr. Ich verglich es mit Uhland, mit Schiller und fand es mindestens so schön. Der Herbst kam. Wir mußten Kühe auf den Wiesen hüten. Die Tage waren klar und lau, der Himmel hing träumerisch über uns. Wir lagen auf dem Rücken und schauten ins Hohe. Wohlig war uns zumute. Ich dichtete Balladen zu jener Zeit, und Anna war jedesmal hingerissen davon. Ich verfolgte eifrig die verschiedenen Werdegänge der Dichter und malte mir meine Zukunft demgemäß aus. Meistens, wenn ich wieder eine Dichtung fertig hatte, leitete ich sie mit einer romantischen Erzählung über einen Dichter ein und unterließ es nicht, Vergleiche zu machen. Dabei wurden mir - glaube ich -die Gestalten klarer, als wenn mir's einer geschildert hätte. Meine Erzählungen klangen, als hätte ich Grabbe, Schiller und all diese großen Leute persönlich gekannt. Einmal, so dachte ich, werde auch ich aus der Verkanntheit aufsteigen, und die ganze Welt wird mich bestaunen. Allmählich wurde mein Dichten im Hause ruchbar. Emma war wieder daheim und bekam etwas zu hören. Sie hatte immer ein geduldiges Ohr und war die heiterste von uns. Sie lachte zwar über mich, fand aber Gefallen an dem Gedichteten. Lern sagte eines Sonntags, als ich mich nicht mehr halten konnte und einen Vers mit ungeheurem Pathos vortrug: »Goethe wirst du doch noch.« Nur Max durfte nichts wissen. Meine Mutter interessierte sich nicht, sie las nichts als das Gebetbuch und im Starnberger Land-und Seeboten den Kirchenanzeiger.
Unsere Bibliothek wuchs und mit ihr die Gefahr des Entdecktwerdens. Aber uns hatte eine schier fanatische Kaufwut erfaßt. Wir vergaßen oft sogar alle Vorsicht, aber dann kamen wieder qualvolle Stunden der Angst vor Max.
»Wenn ich diesmal aufkomme, muß ich fort, sonst erschlagt mich der Maxi«, sagte ich oft zu Nanndl. Die nickte und sagte mechanisch und ratlos: »Ja, das schon.« Über das Weitere dachten wir nicht nach. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln kamen wir von der ewigen Angst nicht los, und jedes kleinste Gefahrzeichen brachte mir Schlaflosigkeit. Ich dachte und dachte. Ebenso Nanndl. Mutter hatte mir einmal erzählt, daß sie als junges Mädchen zur Mutter Gottes betete um Erfüllung eines Wunsches innerhalb einer bestimmten Zeit. Sie dachte aber immer an den Wunsch, und deshalb ging er nicht in Erfüllung. Marie, ihre Schwester, hingegen, erzählte sie, hätte bloß einmal eine Einbildung gehabt und nie daran gedacht, und siehe da, ihr ging die Sache hinaus. Das war ein Wink für uns. Wir dachten also immer an die Gefahr und hofften, sie so am besten zu bannen. »Du«, berichtete mir Nanndl eines Tages sehr aufgeregt in der Holzhütte, »der Postbot' hat den Schuster gefragt, warum er sich denn immer so viele Nachnahmen schicken lasse und was in den Paketen eigentlich drinn' war' ...« Der Postbote! Unser ärgster Feind! Der als schwatzhafter, eitler Klatscher weit und breit bekannt war! Den wir nie grüßten, weil uns sein Gesicht so an Max erinnerte. Der Postbote! Der ob seiner Erscheinung und seines adrettsoldatischen Benehmens von allen möglichen
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