Wir sind Gefangene
dürften heimgehen, weil unser Vater sehr krank sei, empfand ich gar nichts. Auf der Straße redeten wir wenig und machten ernste Gesichter. Im Grunde waren wir froh, daß wir den langweiligen Rechenunterricht hinter uns hatten. Wir lernten gut und gingen gern in die Schule, aber das Rechnen mochte ich nicht. Es überraschte nicht, es lief immer klar und glatt ab. Der Tag war wunderbar sonnig und weit, die Wiesen rundum standen in saftigem Grün und waren blumengesprenkelt, die Apfelbäume links und rechts von der Straße blühten.
Am Dorfanfang traf uns eine Bäuerin und sagte stehenbleibend: »Geht heim, euer Vater ist schwer krank. Arg ist er dran.« Wir beeilten uns. Zu Hause war es irgendwie still. Wir kamen in die Küche, die zugleich als Wohnzimmer diente, und sahen Mutter am Herd mit Flaschen hantieren. Sie sagte bloß: »Geht hinauf zum Vater«, und brach in ein Weinen aus. Wir legten unsere Schulranzen hin und gingen hinauf. Als wir eintraten, begannen wir zu weinen. Warum wußten wir nicht. Ich empfand keinen Schmerz, nur ein leises Grauen. Im Zimmer roch es sehr stark nach Medikamenten und Schweiß. Vor dem Bett saß in Uniform mein Bruder Eugen und sah den Vater unablässig an. Hinter ihm standen Theres und Emma. Beide weinten ganz leise. Max, mein ältester Bruder, stand an der Wand und starrte uns an. Maurus lehnte am Fenster, und Lorenz lispelte uns zu: »Geht hin.« Sein Gesicht war ganz verweint. Wir traten etwas zögernd ans Bett und sagten zugleich:
»Vater!« Der Kranke lag regungslos und röchelte schon. Sein Gesicht war unheimlich gelb und eingefallen. Meine jüngere Schwester schmiegte sich ans Bett und wimmerte noch mal: »Vater!« Da bewegte er den Kopf ein wenig und starrte sie schweigend an. Alle sahen auf ihn und begannen jetzt laut zu weinen. Eugen wollte den Arm unter Vaters Nacken legen, um ihm aufzuhelfen. In diesem Augenblick aber stieß der Sterbende einen hüstelnden Laut heraus, der Körper streckte sich, das Gesicht zuckte und das Weiße der Augen trat ungeheuer stark hervor. Der Tod war eingetreten. Lorenz rannte zur Tür und schrie, sie öffnend: »Mutter!« Wir alle standen schluchzend am Bett und falteten die Hände. Nur Max bewahrte seine Ruhe. Unsere Mutter kam herein und trat ans Bett, bekreuzigte sich, warf einen schmerzhaften Blick gen Himmel, faltete die Hände und wisperte leise ein Gebet. Dabei rannen ihr die Tränen über die verfalteten Wangen. Nach einer Weile bekreuzigte sie sich wieder, beugte sich über den Toten und drückte ihm die Augen zu. Unterdessen zündeten Emma und Theres die beiden Kerzen an, die noch von der Letzten Ölung dastanden, holten Weihwasser und besprengten den Toten. Mit schwerer Stimme fing meine Mutter das Vaterunser zu beten an, und wir alle fielen nacheinander ein. Darauf verließen wir das Zimmer und gingen schweigend in die Küche hinunter. Das Begräbnis wurde besprochen, die Leichenfrau bestellt und der Geistliche zur Aussegnung. Um sechs Uhr abends schon stand der Leichenwagen vor dem Haus und unter lautem Wehgeklage wurde der Sarg aufgeladen und zum Pfarrort gefahren. Hinterdrein schritten wir und viele Dorfleute gebeugten Hauptes und beteten einen Rosenkranz. Als der Sarg im Leichenhaus lag, kamen die Leute zur Mutter und zu den ältesten Geschwistern und reichten ihnen die Hände. Uns Kinder sahen sie mitleidig an und sagten: »Arme Kinder« oder so was. -
Am andern Tag weckten uns feierliche Glocken, die den ganzen Vormittag läuteten. Ins Grab senkte man dreimal die Fahne des Veteranenvereins und Böller wurden in der Nähe abgeschossen, denn mein Vater war Kriegsteilnehmer von 1870/71.
Mittags aßen wir in der Wirtschaft, und alle Verwandten und Basen nahmen an dem Mahl teil. Es wurden allerhand Geschichten vom Vater erzählt und was er zu dieser und jener Zeit noch gesagt hatte. Nachmittags ging die ganze Familie mit der Verwandtschaft an den See hinunter und trank gemeinsam im Restaurant Kaffee. Das alles kam uns vor wie ein Sonntag und gefiel uns Kindern eigentlich ganz gut - nur eben kamen uns ab und zu die Gedanken an den Vater dazwischen, und wir wurden flüchtig traurig.
Von da ab änderte sich alles im Hause. Wir hatten eine gutgehende Bäckerei, dazu eine Spezereiwarenhandlung und eine Konditorei, zirka zwanzig Tagwerk Wiesenland, etwas Wald, vier Kühe, ein Pferd und meistens vier bis fünf Schweine im Stall. Meine Mutter kam aus einem großen Bauernhof und mein Vater war Bäcker gewesen. Als sie heirateten,
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