Wir sind Gefangene
war das Haus sehr klein, jetzt - durch Vaters Lust am Bauen - war ein stattlicher Koloß daraus geworden. Mein Großvater selig, der Rechenmacher Lorenz Graf, träumte sein Leben lang von einem solchen Haus. Da er aber mit der kärglichen Arbeit nie weiterkam, fing er an, sich auf das jähe Glück zu verlassen. Mit größter Leidenschaft spielte er in einer damaligen Lotterie und verwandte zum Schaden der kinderreichen Familie oft noch die letzten Spargroschen dafür. Aber er wurde nur immer ärmer, und als er starb, war das Anwesen verschuldet und baufällig. In seinen letzten Lebensjahren kränkelte mein Vater, und Max übernahm nach seiner Militärentlassung gewissermaßen den Befehl. Seine Art zu kommandieren war kurz, grob und barsch und rief bei Lebzeiten meines Vaters wütende Streite hervor. Der alte Mann griff einmal sogar zum Messer und wollte fluchend auf den jüngeren losgehen. Meine Mutter warf sich dazwischen.
Seitdem redeten sich die beiden nicht mehr an, und Vater ergab sich dem Trunke. Er bestellte sich Affenthaler Faßwein, saß den ganzen Tag murrend im Kanapee und goß langsam Glas um Glas hinunter. Er aß allein in Stube, um Max nicht sehen zu müssen. Die beiden wichen einander aus, wo es ging, und wenn sie sprechen mußten, gab es sogleich wieder einen verbissenen Streit, daß wir Kinder immer aufheulten und davonliefen. Nach solchen Auftritten trafen wir meistens unsere Mutter verweint und gebrochen. Der Vater verließ das Haus, betrank sich in irgendeinem Wirtshaus und kam spät in der Nacht heim.
Wir alle haßten Max. Mit ihm war irgend etwas Fremdes in Haus gekommen. Er trieb uns mit schneiden-scharfen Worten an. Kannte keine Milde, schlug sofort zu. Mit der Hand, mit einem Teigspachtel, mit allem, was gerade nah war. Eugen, der einzige, der ihm an Kraft gleichstand, war damals beim Militär. Lorenz, der »Lenz«, arbeitete nachts mit den Gesellen, Maurus lernte in Karlsruhe das Konditorenhandwerk und Emma in München die Damenschneiderei. Theres, die im Alter gleich nach Max kam, stand eigentlich ganz für sich. Sie fuhr vormittags mit dem Pferd das Brot aus und arbeitete untertags sonstig im Hause. Ihr redete Max nichts drein, denn sie wußte zu antworten. Die beiden kümmerten sich nicht umeinander, waren aber harte Feinde.
Nach Vaters Tod schlossen wir jüngesten Geschwister uns mehr und mehr zusammen. Lenz las sehr viel Karl-May-Bücher, bestellte heimlich Teschings und schoß während des vormittägigen Brotaustragens Fasanen, Hasen und Eichhörnchen, steckte sie in den Brotkorb und briet sie nachts unter Beihilfe der Gesellen. Anfangs wurde ich nicht in dieses Geheimnis eingeweiht. Erst als ich einmal mit Lenz mitgehen mußte, zog er mich in den Wald, holte seinen »Stutzen« aus einem Felsloch und sagte mir alles. Ich war begeistert. Sofort wurde für mich ein neues Tesching in Solingen bestellt. Solche Sachen kamen stets per Nachnahme zum Schuster unseres Dorfes. Der bekam als Schweigegeld Brot.
Mit der Zeit genügte uns dieses einzelne Wildern nicht mehr. Es wurden alle Altersgenossen des Dorfes eingeweiht und sonntags pirschten wir die Wälder ab. Alles, was und in den Weg lief, wurde niedergeknallt. Wer auf den ersten Schuß ein Wild zur Strecke brachte, bekam den »Jägerpreis«,daß hieß, daß das gemeinsam gekaufte Tesching sein alleiniger Eigentum wurde. Die Sache wurde allmählich ruchbar. Der Gendarm kam ins Haus. Wir logen zwar grundsätzlich, aber es gab eine furchtbare Rauferei zwischen Lenz und Max, die damit endete, daß Lenz in die Stadt fuhr, sich eine Stelle als Gehilfe suchte und nie mehr etwas hören ließ. Später, nach einem echt romantischen Walzen durch Deutschland, schiffte er sich in Hamburg nach Amerika ein.
Um diese Zeit kam ich aus der Werktagsschule. Ich mußte nunmehr auch nachts mithelfen. Max sah mir scharf auf die Finger. Sehr eingeschüchtert, unternahm ich lange nichts. Sonntags jedoch zerstörten wir die Bänke des eben gegründeten Verschönerungsvereins, dessen Vorstand Max war, rissen junge Pflanzbäume aus oder zündeten einen Heuhaufen an. Es war irgend etwas in uns, das uns dazu drängte. Wir sahen das förmlich als unsere Aufgabe an und konnten nicht ruhig sein. »Lenz muß gerächt werden«, sagte ich stets. Es mußte etwas geschehen. Wir haßten die Dörfler.
Damals lasen wir das Indianerbuch Der Untergang der Seminolen . Schön, unsäglich schön war der Schluß: »Der letzte Seminole beugt sich über den toten Häuptling,
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