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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Bahnhof.
    Wir waren schon öfter dort gewesen und hatten einen radikalen Grütlianer kennengelernt, der uns stets seine Theorien auf Schwyzerdütsch auseinanderzusetzen beliebte. Es war immer das gleiche. Wir hörten auch gar nicht mehr, was er erzählte, uns belustigte nur, wie er es vorbrachte.
    Je mehr er in Hitze geriet, desto mehr stachelten wir ihn an. Seine Theorien liefen darauf hinaus, daß der Arbeiter sich allmählich in den Besitz des Bodens und der Fabriken setze, daß der Komfort immer mehr steige und der Besitz sowieso aufhöre.
    »Ob ich daschteh oder da, dasch isch im kommunistischa Staat alles eins, da gehört jedem alles«, eiferte er und machte uns das auf dem Boden vor. Zürich und Bern waren für ihn die fortschrittlichsten Städte der Welt. Locarno aber haßte er. Da gab es keine öffentliche Bedürfnisanstalt. Über dieses Manko konnte er sich derart aufregen, daß er mit dem Auffahren von Kanonen seitens der Arbeiterschaft drohte. Freidenker schied er streng von Sozialisten.
    »Ja«, sagte er »die Frydanka! ... Die Frydanka, dasch' etwasch ganz andres wie die Sozialischta! ... Die Frydanka kempfa gega Gott, aber die Sozialischta, die Sozialischta, die geha aufs Ganza« usw. Wir verbissen unser Lachen. »Und die Schweiz! Die Schweiz, das ist auch etwas ganz andres«, sagte ich todernst, aber das beantwortete er stets nur mit der stereotypen Redewendung: »Dasch mit die Länd'r, dasch klärt sich alles, wenn die Sozialischta einmal am Rud'r sind!« Zuletzt standen wir, wenigstens ich, im »Alkoholfreien« hoch in der Schuld. Ich sehe heute noch die biedere, dickleibige Wirtin, wie sie mich mustert und sagt: »Ab'r ich hans doch mit 'rm aständiga Menscha zu tun!«, als ich für mein Schuldenmachen die bewegtesten Worte fand. Ich hinterließ meinen Überzieher und kam nie mehr wieder. Der Boden unter meinen Füßen fing zu brennen an. Ich lief jeden Tag zur Post und machte einen großen Bogen ums »Alkoholfreie«. Das Geld ließ auf sich warten. Nichts half. Ich ergab mich schon so halbwegs in mein Schicksal. Ganz niedergeschlagen und empört über diese Langweiligkeit bei der Post traf ich einmal wieder Kropotkin. Ich erzählte ihm die Sache und zeigte ihm jammernd den Brief von Nanndl. Er wurde verwirrt. »Ich habe keinen Pfennig mehr. Ich weiß gar nicht, was ich anfangen soll«, sagte ich. Der gute Mann wurde immer noch verwirrter und fauchte nervös umher. Ich wollte beruhigend sagen: »Ich will nichts von Ihnen, ich hab's nicht so gemeint.« Aber er hatte sich plötzlich umgedreht und war weg. Seitdem traf ich ihn nie wieder. Nur von weitem bemerkte ich ihn manchmal noch.
    Endlich, endlich kamen die zwanzig Mark. Ich zahlte fünf Franken an meinen Hausherrn und kaufte für den Rest Palmin, Makkaroni und Zucker, Brot und etwas Butter. Dann schloß ich mich wieder völlig ab und lebte davon., so gut es ging.
    Unsere Brioner Gemeinschaft beschloß endgültig, nach Brasilien auszuwandern. Ich war dagegen und hieß das Weltflucht. Erregte Debatten gab es. Ich ließ mich auch da nicht mehr sehr oft sehen. Es kam vor, daß ich oft drei Tage nicht aus meinem Zimmer ging. Mein Hausherr wartete ja doch überall auf die Restzahlung. Ich wich aus. Meine Vorräte schwanden. Ich aß Sauerampfer und röstete sie zuletzt sogar, übergab mich aber nach der ersten Kostprobe. Wenn meine Hausleute beim Essen saßen, schlich ich heimlich fort, wenn es gar nicht mehr in meinen vier Wänden auszuhalten war. Ziellos und gelangweilt durchstreifte ich die Gegend, ging abends nach Locarno und holte Schorsch ab. Wir diskutierten bis tief in die Nacht hinein in seiner Bude und ich riet ihm, nicht mit nach Brasilien zu gehen. Damals zeichnete er erstmalig nach Michelangelo und zeigte mir diese Versuche. Ich ermunterte ihn, denn die Sachen gefielen mir. Er sollte außerdem bald ein kleines Vermögen bekommen, auf das die Auswanderer warteten.
    Ich wetterte: »Was tust du in diesem Sumpf da drüben? Bist du zum Holzhacken auf die Welt gekommen? Bist du Landwirt?« Er nickte und gab's zu.
    »Es wird in der Welt überall so sein: Wir Proleten können die Urwälder ausroden und die Länder kultivieren, wir können schuften und arbeiten, zum Schluß kommt der Staat und besteuert, macht uns zu Untertanen und nimmt uns das, was wir erarbeitet haben ... Überall ist's der gleiche Schwindel! Da bleib' ich lieber Vagabund in einem bequemeren Land ...«
    Er war ganz auf meiner Seite. Wir gingen zu den Kameraden. Eine gereizte

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