Wir sind Gefangene
Gäschigg muß äbn ibral dabei sein.«
Giuseppe, der bei ihm wohnte, kümmerte sich nicht um ihn, und es schien mir, als lache er ihn heimlich aus. Er war in allem nüchtern und arbeitete immer an etwas Praktischem.
Das ganze Kameradschaftsverhältnis war lose. Jeder lebte für sich. Nur die Überzeugung schloß zusammen. In Landern mit Regierungen, in Städten und in dieser Zivilisation war kein rechter Platz für einen Anarchisten. Darum hieß es irgendwo von vorne anfangen. Irgendwo auf der Welt, wo vollkommene Freiheit solches Leben ermöglichte, solche Gemeinschaften schaffen konnte. Deshalb wurde der Plan, nach Brasilien auszuwandern, mit jedem Tag brennender. Man kam Abend für Abend zusammen, las Kropotkin, Landauer, Proudhon und diskutierte darüber. Oft wurde es erregt, aber man verstand sich. Den Tag über arbeiteten alle.
Wir hatten kein Geld. Der Logisherr drängte. Ich verfluchte die ganze Schweiz. In Ascona gab es Arbeit bei Gräser. Aber der bezahlte nichts. Er gab nur Essen und Unterkunft und verweigerte jede Einmischung von »Kultur«. Siedlungen dieser Art gab es genug. Das rentierte sich für den, der sich einmal einen Besitz geschaffen hatte, mitunter sehr gut, denn die Deserteure zum Beispiel oder die russischen Revolutionäre waren gezwungen, diesen Drohnen Dienste zu tun ohne Bezahlung.
Es waren alle möglichen Menschensorten da, Revolutionäre, Vegetarier und Maler aus allen Himmelsrichtungen, Freiluftkulturanhänger und endlich Literaten und Naturmenschen mit langen Haaren und nur mit einem Hemd aus grobem Sackleinen bekleidet. Die Vollblutpflanzenfresser hatten auf Verita eine große Siedlung, genannt »Die Heidelbeere«. Dort wurde Nacktkultur verkündet, neues Menschentum und freie Liebe betrieben. An allen Bäumen klebten Propagandazettel in Versform, die zum Eintritt aufforderten, aber wehe, wer nach Seife roch, solche mitbrachte oder gar rauchte ...
Unsere Geldnot wurde immer drückender. Etliche Tage arbeiteten wir bei Gräser. Dann gab es in Locarno beim Malermeister Schmidt Anstreicherarbeit. Nanndl sandte Geld. Es ging also wieder.
»Hol' der Teufel dieses Leben«, brummte ich einmal in der Diskussion, »es ist genau wie woanders ...« Schorsch zog aus und baute sich in einer Mühle ein paar Zimmer aus, pflanzte sich Gemüse und fand endlich als Konditor Arbeit in Locarno. Ich haßte meine Umgebung auf einmal; nannte Jenke einen »Grasfresser und Verdauungsrevolutionär« und schloß mich ab. Dieses geruhsame Leben und Diskutieren gefiel mir nicht. Ich kaufte mir Nahrungsmittelvorrat für meine letzten Franken und ließ mich nicht mehr sehen, lag den ganzen Tag auf meiner Matratze und las oder schrieb. Manchmal durchstrolchte ich allein die Gegend.
Als ich eines Tages in Ascona in den Autobus, der nach Locarno fuhr, einstieg, saß neben mir ein Herr, der mir sehr bekannt vorkam. Zu seinem Geburtstag hatte kürzlich der Leipziger Anarchist sein Bild gebracht. Ein französisch sprechender Begleiter unterhielt sich mit ihm. Ich konnte also in aller Ruhe mein Objekt besehen. Klein war der Mann, trug einen langen, gepflegten Graubart, der die halbe Brust verdeckte. Seine Augen irrten unruhig hinter den Gläsern, das ganze Gesicht war gedrungen, scharf traten die Backenknochen heraus. Nur die Stirn lief ebenmäßig in den Schatten des Hutes. Die beiden stiegen vor Locarno aus. Ich folgte ihnen. Immer näher kam ich ihnen. Der kleine Graubart wurde nervös. Ich trat ganz an ihn heran, klopfte ihm von hinten auf die Schulter, daß er sich erschreckt umdrehte und mich etwas verwirrt ansah.
»Verzeihung, habe ich vielleicht mit dem Fürsten Peter Kropotkin die Ehre?« sagte ich etwas unbeholfen und lachte ein wenig. Der Mann nickte freundlich und musterte mich flüchtig. Ich trug zu damaliger Zeit nur Hose und Hemd, lief ständig barfuß und hatte lange, wallende Haare.
»Verzeihung«, sagte ich schon wieder etwas hastig, »mein Name ist Graf. Ich bin Sozialist und habe Ihre Photographie im Leipziger Anarchist gesehen.«
»Ein junger Genösse«, sagte jetzt Kropotkin zu seinem Begleiter und stellte mich vor. Wir kamen langsam ins Gespräch. Ich lobte Kropotkins Bücher und erzählte von der Bewegung in Deutschland. Interessiert hörten die beiden zu.
»Schreiben Sie auch für sozialistische Blätter?« fragte der Fürst, als ich flüchtig etwas von der Schriftstellerei erwähnte, und sah mich an. »Nein, nur für Witzblätter«, antwortete ich. Wieder maßen mich die beiden und
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