Wir sind verbannt (German Edition)
Lebewesen darauf sitzen kann und es sogar schafft, Nachwuchs großzuziehen. Der Wind zerrte an meinen Haaren, kämpfte mit meinem Mantel, riss Zweige und kleine Fetzen Seetang aus den Nestern.
Und ich überlegte, wie lange es wohl gedauert haben mochte. Wie viele Fehlversuche, bis der erste Kormoran, einen Weg gefunden hatte, die Zweige so anzuordnen, dass der Wind sie nicht wegbläst? Wie viele Eier sind wohl schon herausgefallen und auf den Felsen zersprungen oder hinab in die Brandung gestürzt?
Sie hätten irgendwo anders hingehen können, an einen Ort, an dem es einfacher gewesen wäre. Aber an den einfacheren Orten gab es Raubtiere, die nach Vogelfleisch und Eiern gierten, andere Vögel, die mit ihnen um Platz und Nahrung konkurrierten, alle möglichen Gefahren. Alles keineswegs einfach.
Um zu überleben, mussten sie es irgendwie schaffen, dass das Leben hier funktionierte. Doch sie wussten nicht sofort, wie. Sie machten Fehler. Sie müssen welche gemacht haben.
Sie bauten Nester, die wieder auseinanderfielen. Sie verloren Eier. Und ganz langsam, nach und nach, fanden sie ein Stückchen der Lösung, und dann noch eins.
Es ist gar nicht zu übersehen, wenn man erst einmal hinschaut. Wenn sie es nicht immer wieder versucht hätten, selbst dann, wenn sie mehr vermasselten als hinbekamen, dann gäbe es jetzt keine Kormorane. Wenn sie aufgegeben hätten, dann wären sie inzwischen ausgestorben. Es spielt keine Rolle, wie lange sie brauchten, den richtigen Weg zu finden. Dass sie es immer wieder versucht hatten, war das, was zählte.
All das ging mir durch den Kopf, als ich hinabsah, auf die Nester und in den tiefen, tiefen Abgrund. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Und da begriff ich, dass es das ist, was ich eigentlich wegwerfe, wenn ich springe. Die Chance, es immer wieder versuchen zu können. Es ist nicht wichtig, dass ich nicht strahle wie Shauna. Shauna ist tot. Es spielt auch keine Rolle, dass ich nicht so selbstsicher bin wie du, Leo, oder so stark wie Tessa. Wir befinden uns alle auf einer Klippe, und beim Überleben geht es nicht darum, wer der Beste oder der Strahlendste ist. Es geht darum, so lange wie möglich durchzuhalten, es zu versuchen, zu scheitern und es wieder zu versuchen, so lange, bis wir dem Ziel, das Ganze hier durchzustehen, ein Stückchen näher gekommen sind.
Kann sein, dass ich es wieder vermassele, wenn ich jetzt zurückgehe. Aber vielleicht kann ich auch helfen, wenigstens ein bisschen. Wenn ich aber den Rand der Klippe überschreite, dann ist alles aus. Als würde ich einfach tatenlos danebenstehen und das Virus, die Gang und die Hoffnungslosigkeit siegen lassen, für immer und ewig. Etwas Schlimmeres kann ich mir nicht vorstellen. Wie schmerzhaft das Versuchen auch ist.
Kann sein, dass es nicht viel gibt, was ich so gut kann wie zusehen, aber wenn man genau hinsieht, erkennt man manchmal Dinge, die einem sonst entgangen wären. Wichtige Dinge. So wie das, was an dieser Sache hier wirklich schrecklich ist und was die Kaelyn, die ich bin, dagegen tun kann.
Ich würde am liebsten zugleich lachen und weinen und irgendwen umarmen, aber zuerst muss ich nach Meredith sehen.
Dad wusste über Viren Bescheid, aber er wusste nicht alles. Und manchmal war er einfach zu ängstlich. Meredith wird sterben, wenn wir nichts unternehmen. So viel steht fest.
Wenn wir ihr also nur die geringste Überlebenschance geben können, sind die Risiken bedeutungslos.
21. Dezember
Gestern kommt mir schon vor, als sei es vor hundert Jahren gewesen. Als wäre ich eine Ewigkeit gelaufen, nachdem ich von der Klippe zurück war, obwohl ich doch direkt ins Krankenhaus gegangen bin.
Als ich den Haupteingang erblickte, war ich einen Moment lang unfähig, mich zu bewegen. Ich konnte nur noch daran denken, wie ich diese Treppen am Abend zuvor zusammen mit Dad heruntergekommen war, und der Schmerz zerriss mich vom Bauch bis zum Hals wie ein Schlachtmesser. Die Tränen schossen mir in die Augen, und mir wurde ganz schlecht.
Aber Meredith brauchte mich. So viel wusste ich noch. Und der Gedanke an sie zog mich durch die Tür.
Ich lief durch die Flure, bis ich Nell in einem der Zimmer fand. Als sie mit den Patienten fertig war, zog ich sie beiseite und erzählte ihr von der Antikörpertransfusion.
»Ich erinnere mich«, sagte sie. »Wir haben das Verfahren mit Serum bei fünf Patienten getestet, letztendlich hat es aber nichts gebracht.«
»Weißt du, wie man das Serum herstellt?«, fragte ich, und sie
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