Wir sind verbannt (German Edition)
Küchentheke ab. Ich merkte gar nicht, dass ich weinte, bis alles anfing, vor meinen Augen zu verschwimmen.
Gav streckte die Hand nach mir aus, aber ich sagte: »Stopp!«
Ich drehte mich zu ihm um und machte gleichzeitig einen Schritt zurück. Dabei verschränkte ich die Arme vor der Brust.
»Kaelyn«, sagte er und kam auf mich zu.
»Ich hab stopp gesagt!«, schrie ich, und da gehorchte er. Er blickte mich verständnislos an.
»Ich war gerade oben bei Meredith«, sagte ich. »Ich habe ihr Geschirr angefasst. Ich hab mir bis jetzt noch nicht mal die Hände gewaschen.«
Und plötzlich erinnerte ich mich an all die vielen Male, an denen Gav neben mir gesessen und mich berührt hatte, seit Meredith krank geworden war, und ich hatte auf einmal das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Ich war ja so leichtsinnig gewesen. Was nützten schon der Schutzkittel und das Händewaschen, wenn das Virus sich von meinen Füßen oder durch meine Haare anschleichen konnte? Wir haben uns schon seit Wochen nicht mehr richtig waschen können. Klamotten, die halbwegs sauber aussehen, trage ich mehrere Tage, weil ich jedes Mal, wenn wir eine Maschine Wäsche laufen lassen, Angst habe, dass der Generator nicht mehr mitmacht. Und ich war die ganze Zeit so mit dieser beschissenen Situation beschäftigt, dass ich gar nicht daran dachte, wie gefährlich das für jemand anderen sein konnte. Ich war einfach so froh gewe- sen, Gav hier zu haben. Wie konnte ich nur so egoistisch sein?
Ich hätte ihn überhaupt nicht mehr ins Haus lassen dürfen, nachdem Meredith krank geworden war.
»Es ist besser, wenn du jetzt gehst«, sagte ich.
»Kaelyn«, antwortete er ruhig, als stünde sein Leben gar nicht auf dem Spiel, »ich habe mit vielen kranken Leuten gesprochen, bin im Krankenhaus ein und aus gegangen, seit Monaten . Wenn ich das Virus hätte kriegen sollen, dann hätte ich es schon längst.«
»Das kannst du überhaupt nicht wissen«, erwiderte ich. »Meredith ging es monatelang gut, und jetzt hat sie es doch. Du hast nichts bekommen, weil du vorsichtig warst. Du kannst jetzt nicht einfach damit aufhören und glauben, das sei schon in Ordnung. Hier ist es nicht sicher. Ich bin nicht sicher.«
»Offensichtlich habe ich mich entschieden, dieses Risiko einzugehen.«
»Das sollst du aber nicht«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Ich will, dass du gehst. Sofort.«
Er machte den Mund auf, um weiter zu diskutieren, doch irgendetwas an meinem Gesichtsausdruck musste ihn davon überzeugt haben, dass ich meine Meinung nicht ändern würde.
»Also gut«, sagte er. »Ich gehe. Aber morgen komme ich wieder.«
»Ich werde dich aber nicht reinlassen«, erwiderte ich.
»Dann rede ich so lange durch die Tür mit dir, bis du es tust«, antwortete er. »So hat es mit uns beiden angefangen, weißt du noch?«
Es tat mir im Herzen weh, ihm dabei zuzusehen, wie er in den Flur ging und sich die Stiefel anzog. Denn er meinte es ernst. Er würde immer wieder zurückkommen. Als wäre ich … als wäre überhaupt irgendjemand es wert, dieses Risiko auf sich zu nehmen.
»Gav«, begann ich.
»Ich geh schon, ich geh schon«, antwortete er und hob die Hände in die Höhe. »Wir sehen uns morgen.«
»Nein«, erwiderte ich. »Erst wenn Meredith … wenn das alles vorbei ist. Vorher nicht. Und nicht hier. Okay?«
Er antwortete mir nicht. Sah mich nur noch ein letztes Mal an und ging aus der Tür.
Es war das Richtige. Das wusste ich in diesem Moment genau. Ich dürfte mich jetzt eigentlich nicht so schrecklich fühlen.
Ich zögerte noch einen Augenblick, als er fort war, dann schloss ich die Haustür ab. Als ich mich umdrehte, stand Tessa in der Wohnzimmertür und sah mich an.
»Ich werde nicht gehen«, sagte sie in demselben Tonfall, den sie draufhatte, als sie Quentin androhte, noch einmal mit dem Elektroschocker auf ihn loszugehen.
Daran hatte ich bis dahin noch gar nicht gedacht. Ich weiß auch gar nicht, ob ich das überhaupt getan hätte. Wir waren schon so lange mit Tessa zusammen – sie hatte uns praktisch ihr komplettes Haus überlassen – unvor- stellbar, sie vor die Tür zu setzen. Wohin sollte sie auch gehen?
»Ich weiß«, antwortete ich. »Natürlich nicht.«
Bin ich jetzt eine schlechte Freundin, weil ich Gav mehr schützen will als Tessa? Oder eher eine gute, weil ich Tessa selbst die Entscheidung überlasse?
19. Dezember
Ich habe Nell gesagt, dass ich nach Hause will, also hat sie mich hergefahren. Aber das hier ist nicht zu
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