Wir sind verbannt (German Edition)
allein bleibt – auch für sie. Wir wollen ja nicht, dass sie draußen herumirrt, oder?«
Das sind meine Worte, aber ich fühle mich auch ganz schrecklich. Es ist, als hörte man eine Katze oder einen Affen aus einem dieser Anti-Tierversuchs-Spots, wo sich die Tiere verzweifelt an die Gitterstäbe krallen. Nur ungefähr tausendmal schlimmer, weil es in diesem Fall Mom ist. Mom , die noch vor ein paar Tagen wie ein ganz vernünftiges menschliches Wesen mit uns gesprochen hat.
Seit gestern habe ich kein Wort mehr zu ihr gesagt. Ich kann nicht. Und ich gebe mir die größte Mühe, so zu tun, als würde ich sie nicht mal mehr hören. Ich weiß, dass das nicht mehr wirklich sie ist. Sie ist zwar da, aber irgendwie auch schon fort.
Und vielleicht habe ich auch ein bisschen Angst davor herauszufinden, was sie sonst noch alles über mich sagen könnte. Und damit oute ich mich natürlich erst recht als schreckliche Tochter, stimmt’s?
Heute Nachmittag saß Drew eine Weile vor ihrer Tür und unterhielt sich mit ihr. Als er hinterher an meinem Zimmer vorbeikam, hatte er die Hände zu Fäusten geballt und blinzelte heftig. Eine halbe Stunde später ging er weg und ist bis jetzt noch nicht wieder zurück.
Dad ist zu Hause geblieben, seit sie so ist, aber er hat letzte Nacht auf dem Sofa geschlafen und ist heute Morgen nur kurz zu ihr rein. Als er sie wieder verließ, fing sie an zu schreien und hat ihm sicher auch ein paar zornige Gemeinheiten an den Kopf geworfen.
Danach saß er den größten Teil des Tages mit seinem Laptop am Esstisch, scrollte sich durch Dateien und rieb sich die Stirn. Seine Haare werden langsam zottelig, weil er sie den ganzen Sommer schon nicht hat schneiden lassen. Eigentlich verdeckte sein helles Blond prima jegliches Grau, das sich einschlich, so dass er immer jung für sein Alter gewirkt hatte, doch jetzt sah er so unheimlich blass und erschöpft aus, fast als würde er irgendwie verkümmern.
Als ich Thunfischcracker für mich machte, schmierte ich auch ein paar für ihn, denn ich weiß gar nicht, was er zurzeit überhaupt so isst, wo uns inzwischen auch das Brot ausgegangen ist. Ich setzte mich ihm gegenüber, und wir aßen beide, ohne ein Wort zu sagen. Er blickte kaum einmal von seinem Computer auf. Als ich das Schweigen nicht länger ertragen konnte, schob ich meinen Teller beiseite und fragte gepresst: »Sie wird nicht mehr gesund werden, hab ich recht? Diese speziellen Pflanzen, die ganzen Pillen, nichts davon hilft.«
Da sah er mich an, als hätte ich ihn gerade geohrfeigt, und ich wünschte auf der Stelle, ich hätte nichts gesagt. Doch der Gedanke ratterte mir schon seit gestern durch den Kopf und wurde ständig lauter. Ich musste es einfach wissen.
»Das können wir noch nicht sagen«, antwortete er leise. »Zwei der Patienten im Krankenhaus haben sich wieder erholt. Und wir tun, was wir können.«
»Zwei«, wiederholte ich, und mir drehte sich der Magen um. »All diese kranken Menschen, und nur zwei von ihnen sind wieder gesund geworden? Wie kannst du da annehmen, Mom hätte ebenso viel Glück?«
»Die Alternative hieße aufzugeben«, erwiderte er. »Und das werde ich bestimmt nicht tun.«
Ich spreche es nicht aus, aber ich frage mich, ob es nicht einfacher wäre aufzugeben. Einfacher, als mit Leib und Seele und all seiner Energie einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen. Denn mittlerweile sieht Dad selbst schon fast aus wie der wandelnde Tod.
Doch als Meredith sich vor ein paar Stunden auf der Couch an mich lehnte und fragte: »Wird Tante Grace wieder gesund?«, antwortete ich: »Natürlich wird sie das. Sie lässt sich doch nicht von so einem mickrigen kleinen Virus unterkriegen.«
Ich bin also wirklich eine schreckliche Tochter. Und eine Lügnerin.
21. Oktober
Heute Nachmittag sind wir alle hinaus in den Garten hinterm Haus gegangen, weil es so schön sonnig war. Wenigstens gaben wir vor, das wäre der Grund. Hauptsächlich war es aber wahrscheinlich, weil wir dort hinten Mom nicht hören konnten.
Dad saß mit seinem Laptop auf dem Schaukelstuhl, während Drew, Meredith und ich uns ein Frisbee zuwarfen. Und dann sagte Drew in einem seltenen Anfall von Mitgefühl zu Dad, dass er irgendwann bestimmt nicht mehr klar denken könne, wenn er nicht bald mal eine Pause einlegen würde, und ob sie nicht einfach ein paar Würfe mit dem Baseball riskieren wollten. Das haben sie nicht mehr zusammen gemacht, seit wir von Toronto hierhergezogen sind, und ich glaube nicht, dass Drew
Weitere Kostenlose Bücher