Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten
kam ihm zu Hilfe. Kein Mensch war bei diesem Wetter freiwillig unterwegs und jeder wollte so schnell wie möglich ein Dach über dem Kopf haben. Also setzte er Fuß vor Fuß, ging mit dem Wind, so lief es sich leichter, und atmete zum ersten Mal tief ein. Er war frei. Und doch hatte er einen ganzen Staatsapparat gegen sich: Soldaten, SS, Polizei. Alles Feinde, die nach seinem Leben trachteten. Schritt für Schritt ging er weiter, horchte auf den Wind, auf den Regen, auf die Stille.
Als der Morgen dämmerte und der Regen nachließ, hatte Bastian die Stadt schon weit hinter sich gelassen. Er sah am Horizont Baumreihen, die einen Waldrand begrenzten. Wenn er es bis dorthin schaffte, könnte er sich in der Deckung des Waldes vielleicht kurz ausruhen. Er beschleunigte seine Schritte.
Mit Absicht bewegte er sich nicht auf dem Weg. Die Felder und Wiesen links und rechts boten allerdings auch keinerlei Schutz. Daher schaute er ständig um sich. Bei jedem Fuhrwerk warf er sich, schon wenn er es von Weitem ahnte, mit klopfendem Herzen flach ins Gras. Da, wieder ein Gefährt – schnell näherte sich ein schwarzer Wagen. Und jedes Mal das Zittern vor dem Ungewissen, dem Schlimmsten. War es Polizei, Militär, Gestapo? Er hatte nie die Zeit, das Gefährt genauer anzusehen. Weil er vorher verschwinden musste. Daher jedes Mal die Angst: Würden sie schießen? Hunderte von diesen Nazis schienen überall auf Posten zu sein.
Der Regen verzog sich, sogar die Sonne zeigte sich, schien ihm ins Gesicht. Dann ging er wohl Richtung Südosten, denn er vermutete, dass es inzwischen später Morgen war.
Schüsse krachten ganz in seiner Nähe. Bastian erschrak, stand wie gelähmt, suchte mit den Augen die Gegend ab. Er bemerkte Soldaten, die am anderen Ende eines großen Feldes standen und schossen. Er warf sich flach auf den Boden. Schossen die Soldaten auf ihn oder auf jemand anderen? Er war sich nicht sicher.
Langsam legte er sein Gesicht ins Gras, krallte seine Hände in die Erde, betete, flüsterte, lauschte. Bitte! Kein Schuss sollte ihn treffen. Er dachte zurück an den Sommer 1943, an Zack, der im Kugelregen gestorben war. An die Pläne, die sie damals hatten. An die Hoffnungen, die alle den Bach runtergegangen waren.
Neue Schüsse. Einschläge in Baumstämme. Eine Kugel pfiff über ihn hinweg. Noch tiefer grub er den Kopf ein. Er glaubte eine Stimme zu hören, ganz nah an seinem Ohr: »Knallt ihn ab!« Oder war es: »Erledigt! Ab!«? Er schwitzte und fror, das Gesicht fest in den Dreck gepresst.
Er war immer noch nicht sicher, dass die Rufe und Schüsse nicht ihm galten. So wartete er weiter mit Zittern.
Und die Stimmen wurden dünner. Auch die Schüsse hörten auf. Endlich war Ruhe, nein, eine Stille, die ihm fast bedrohlich erschien. Hatten sie sich verzogen? Oder hatten sie sich nur versteckt und lauerten jetzt ihm auf?
Erst später, sehr viel später, als sein Herz wieder seinen Rhythmus gefunden hatte, hob er den Kopf, schaute sich um und stand vorsichtig auf.
Er stapfte am Rand des Feldes entlang bis zu drei Bäumen, die an einer Weggabelung standen. Und sah drei Männer, die an den drei Bäumen baumelten, die Gesichter groß und aufgequollen, die Augen ausgestülpt, mit offener Arbeitsjoppe, ein Holzschuh hing an einem Fuß. Sie wurden vom Wind sanft hin und her geschaukelt. Wäre er bei seiner Flucht nur hundert Schritte weiter vorne gewesen, würde er jetzt wahrscheinlich auch da baumeln.
Ihm wurde kalt und übel und doch musste er hinsehen. Gehängt. Und durchlöchert von Kugeln. Ebenso das Schild, auf dem Vaterlandsverräter stand. Sein Blick tastete die Gesichter der Gehängten ab: zwei Jungen, nicht älter als er, ein alter Mann, ein Bauer.
Sofort dachte er an seine Freunde. Ob die auch so gehängt worden waren? Er drängte den Gedanken weg, schüttelte sich wie ein nasser Hund und erbrach sich. Er wollte diese Bilder loswerden, versuchte, gegen all das zu pfeifen, verstummte wieder. Das Pfeifen könnte ihn verraten.
Und stapfte weiter, bis er schließlich den Wald erreichte. Er stolperte über Baumwurzeln, stieg durch unwegsames Unterholz. Zweige krallten sich in seine Jacke, bis er nicht mehr konnte. Er kletterte auf einen Baum, lehnte sich an den Stamm und spürte eine tiefe Müdigkeit.
Er fiel in einen kurzen, unruhigen Schlaf, den er nicht zulassen wollte und der doch mächtiger war. Und wieder dieser Strudel, der ihn nach unten zog. Tiefer, immer tiefer. Ein seltsamer Traum. Von Schlingen um den Hals,
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