Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten
Gelächter und Schüssen. Und obwohl er sich wehrte, konnte er sich nicht daraus befreien. Schwer atmend wurde er wach, rieb sich die Augen, versuchte, sich zu erinnern, wo er war und wie er hierhergekommen war.
Und sofort quälten ihn andere düstere Gedanken: die Sorge um seine Freunde. Ralle, Otto, Martin und all die anderen, mit denen er in Brauweiler gesessen hatte. War er der Einzige, der davongekommen war? Oder hatte noch ein anderer die Flucht geschafft?
Hätte er für sie etwas tun können? Hätte er auch sie retten können? Musste er ein schlechtes Gewissen haben, weil er von dem Lkw gesprungen war und die anderen allein gelassen hatte? Hatte man sie wegen seiner Flucht vielleicht noch schlimmer gequält? Und wenn: Gab es überhaupt noch eine Steigerung?
Schlimmes Herzklopfen, das lange nicht nachließ.
Er sah dabei die grinsenden Gesichter der Klapproths und Ziegens, duckte sich vor Föls’ Peitsche, die auch in Brauweiler wieder mächtig zum Einsatz gekommen war, und schrie von seinem Baum herab: »Hier bin ich. Ich bin kein Held!«
Aber nur der harte Novemberwind antwortete ihm.
»Ich bin kein Held!«, schrie er wieder trotzig gegen die Stämme der Bäume. Er hatte einfach verdammtes Glück gehabt. So oft hatte der Tod in diesem Krieg schon seine Finger nach ihm ausgestreckt.
Und doch hätte er bleiben sollen, bei den anderen Edelweißpiraten. Sie gehörten zusammen. Gemeinsam hatten sie sich denen widersetzt. Gemeinsam hätten sie sterben müssen.
Aber er war gesprungen.
Die anderen baumelten am Galgen.
Aber er war gesprungen.
In einem winzigen Augenblick irrwitziger Hoffnung.
Er hätte bleiben sollen.
Aber er war gesprungen.
Unerbittlich klopfte dieser Satz gegen seinen Schädel.
Er weinte, fühlte eine tiefe Einsamkeit in seinem Inneren aufsteigen.
Er hatte versagt. War überhaupt nicht der Held, der die Flucht geschafft hatte. Saß dort im Baum mit baumelnden Beinen, wie einer, den man für immer vergessen konnte. Die Nazibrut würde weitermachen, würde jeden, der nicht in ihr Weltbild passte, fangen, foltern, zerfetzen.
»Ich hab es nicht anders verdient«, seufzte er schließlich. »Weil ich die anderen verraten habe, bin ich jetzt allein.«
Verraten. Er buchstabierte das Wort vor sich hin und jeder einzelne Buchstabe erzählte von dieser tiefen Einsamkeit. Er wiederholte und wiederholte es, wie ein Trunkener, dem das Entsetzen zu Kopfe gestiegen ist.
Verräter, Verräter, schrie es in seinem Kopf. Er hielt die Hände vors Gesicht.
Verräter, Verräter, dröhnte es im Inneren seines Schädels. Er hielt sich die Ohren zu.
Verräter. Er atmete tief ein, wollte endlich Ruhe. Sich nicht mehr schämen.
Und er hatte trotz allem ein Ziel. Er musste hier weg, egal wie viel tausend Naziposten er dabei passieren musste.
Vielleicht konnte er einen Wagen finden, der ihn mitnahm. Zu Fuß würde er es niemals schaffen. Bei jemandem mitfahren musste er und zu seiner Tarnung vielleicht sogar den begeisterten Nazi spielen, lügen, sich verleugnen. Ein neuer Verrat.
In einer solchen Zeit konnte man nur als Verräter überleben. Er seufzte und richtete sich doch auf.
Gehen. Fahren. Und wieder ein Versteck suchen. Verschwinden. Ein Nichts sein.
Und trotzdem war er da: Bastian Frei. Und langsam machten sich Trotz und Stolz wieder breit. Er, Bastian, Edelweißpirat, würde es denen schon zeigen. Bestimmt nicht in deren Fangarme laufen. Er hob den Kopf, strich sich über die Stirn, wischte sich Schweißperlen ab, die trotz der Kälte auf seiner Stirn standen, sprang hinab ins feuchte Laub und ging los. Er setzte dabei mechanisch einen Fuß vor den andern. Beruhigt vom gleichmäßigen Rhythmus seiner Schritte, schwankte er weiter.
Doch ein anderes Gefühl meldete sich jetzt laut und deutlich: Hunger. Seit zwei Tagen hatte er nichts mehr gegessen, auch nichts getrunken, bis auf die Regentropfen, die er mit seinem Mund aufgefangen hatte.
Er müsste Bauern finden, auf deren Wagen er mitfahren könnte. Dazu müsste er zurück zu einer Straße. Das war gefährlich – aber weniger gefährlich, als die Bahn zu benutzen, denn er hatte weder Geld noch einen entsprechenden Passierschein.
Er riss Grashalme ab, zerrieb sie zwischen seinen Zähnen und ging weiter auf der Suche nach einer Straße.
Wolken ballten, türmten und verzogen sich. Der Wind trieb sie über den Novemberhimmel. Sogar ein Sonnenstrahl kämpfte sich durch, auch wenn er gleich wieder von einer schwarzen Wolke weggedrängt
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