Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten
Er konnte nichts sehen, schnüffelte stattdessen in die feuchte Dunkelheit. Dann rollte er zur Seite, schwang sich über die Wagenkante und ließ sich fallen. Er landete auf den Füßen, kippte aber dann hart auf die Knie, unterdrückte ein Stöhnen, legte sich flach und wartete, bis er von dem davonfahrenden Müllkarren nichts mehr hörte. Er wälzte sich nach rechts in ein halbhohes Gebüsch.
Es pfiff ein scharfer Wind. Bastian krallte sich fest, spürte einen Stein unter seinem Bein. Er schob alles, was er greifen konnte, als Schutz über seinen Körper. Heu, Blätter, Zweige. Für einen kurzen Moment fühlte er sich beinahe geborgen. Er lauschte. Jetzt kam es wieder aufs Stillhalten an, falls noch ein weiterer Wagen auf dem Weg zur Halde hier entlangkäme.
Bastians Finger wurden langsam taub, und damit ihn das Klappern seiner Zähne nicht verraten konnte, presste er die Lippen fest zusammen. Doch er konnte jetzt ziemlich genau erkennen: Der Müllwagen stand direkt vor einer kleinen Bretterbude. Ein trüber Mond beleuchtete das Ganze. Er beobachtete zwei Männer, wie sie das Pferd ausspannten und es dann aus seinem Blickfeld führten. Kurz darauf tauchten sie wieder auf, unterhielten sich. Einer griff nach oben und hielt einen Schlüssel in der Hand. Sie verschwanden in der Bude und warmes Licht drang nach draußen. Nach einer kurzen Weile kamen sie heraus, schlossen ab und legten den Schlüssel wieder nach oben. Wohin, konnte Bastian nicht erkennen. Die Männer riefen sich noch etwas zu und gingen schließlich in unterschiedliche Richtungen davon. Einer kam ganz nah an ihm vorbei.
Bastian wartete, bis es still wurde. Er harrte noch weitere endlos scheinende Minuten aus, wollte sichergehen. Endlich hob er vorsichtig den Kopf, streckte die Beine, um die Taubheit zu vertreiben, und krabbelte aus dem Gebüsch. Mittlerweile war es stockdunkel, der Mond von dicken Wolken verdeckt – und er erkannte nichts mehr. Nur die Schwärze der Nacht war um ihn. Doch allmählich gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel und er gewahrte Umrisse.
Er tastete sich vor, stolperte über Berge von Müll: Asche, Laub, Steinbrocken, Reste von Häusermauern, zerbrochene Dachziegel, Scherben. Andere Abfälle hatten die Menschen nach langen Kriegsjahren in ihren zerstörten Städten nicht mehr.
Er war nun wirklich mutterseelenallein. Das Dunkel zeigte neue Formen, foppte ihn. Erst duckte er sich immer wieder. Dann ging er aufrecht in Richtung Bretterbude. Er griff nach oben, fühlte an einer löchrigen Regenrinne entlang – und richtig, im letzten Stück ertastete er einen Schlüssel. Er öffnete die Bude und versuchte, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden.
Hinter der Tür tappte er vorwärts und fand eine Taschenlampe, in deren Lichtkegel entdeckte er Arbeitskleidung, sorgfältig über einen Stuhl gehängt. Die grobe Drillichhose war zu lang, die Jacke derb und dreckig, die Schuhe zu groß. Aber wenigstens war er die nasse Gefängniskleidung los. Die legte er fein säuberlich an die Stelle der Arbeitskleidung, ließ einmal den Strahl der Taschenlampe über das Innere der Hütte huschen, hätte sich gerne hingelegt und einfach ausgeruht. Aber er musste weiter. Er war ein Gefangener, ein zum Tode Verurteilter, auf der Flucht.
Doch in letzter Minute packte er seine alte Kleidung, band sie eng zusammen zu einem Bündel und klemmte sie sich unter den Arm. Sie hätte den Müllmännern – und erst recht den Gestapoleuten – zu viel verraten.
Die Taschenlampe steckte er in seine Tasche, verschloss die Tür und legte den Schlüssel zurück.
Er kraxelte in der Dunkelheit an der Müllhalde vorbei stadtauswärts, traute sich nicht, die Taschenlampe zu benutzen. Er musste raus aus Köln, auch aus dem Dunstkreis, so schnell wie möglich. Und das einzige Ziel, das ihm einfiel, war Pfronten. Dort war seine Familie.
»Pfronten im Allgäu«, murmelte er. »Tante Anni.« Bei dem Gedanken an Tante Anni, seine Mutter und Elli musste er lächeln.
Er schaute sich um, drehte sich einmal um sich selbst. Rechts von ihm tasteten Flakscheinwerfer den Himmel ab. Die Flakstellung Ossendorf lag im Westen. Das bedeutete, wenn er Richtung Süden wollte, musste er noch einmal quer durch die Stadt. Das machte ihm keine Angst, denn kaum jemand kannte sich im Untergrund der Stadt besser aus als er. Er warf sein Kleiderbündel hinter einen Busch. Dort würde es so schnell niemand finden.
Der Regen, der inzwischen heftig prasselte und ihn bald durchweicht hatte,
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