Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir toeten nicht jeden

Wir toeten nicht jeden

Titel: Wir toeten nicht jeden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Salem
Vom Netzwerk:
ich weiß, dass er alles weiß oder mich zumindest im Verdacht hat.
    Ich lege mich wieder hin und nutze die Minuten bis zu seiner Rückkehr zum Nachdenken. Doch ich komme zu keinem Schluss, und so versuche ich mich an meine Träume zu erinnern, die ich kurz vor dem Aufwachen hatte; es waren keine wirren Träume, sondern Erinnerungen, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie habe, Schemen eines unmittelbar bevorstehenden Geistesblitzes und das Aufflammen eines Feuerzeugs, an dem jemand im Schutz einer gelben Kapuze eine Zigarette anzündet.
    Arregui kommt zurück. Wir essen wortlos.
    Ich bedanke mich, und da er mich unverwandt anschaut, sage ich:
    »Es könnte sein, dass ich bald mit dir reden will, Txema. Zuerst mit dir. Und danach vielleicht mit Kommissar Arregui.«
    Er nickt, das genügt. Ich muss mich der Realität stellen, die mich immer noch bedroht, und sie zwingen, mir ihr wahres Gesicht zu zeigen. Plötzlich ist mir meine Nacktheit peinlich, an die ich mich schon fast gewöhnt hatte, und ich bitte Arregui um eine Trainingshose. Sich splitterfasernackt dem Leben oder dem Tod zu stellen mag sehr symbolisch sein, ist aber auch verdammt unangenehm.
    Draußen schlendere ich dann ohne konkretes Ziel umher, denn mein Kopf muss die Erinnerungsfetzen ordnen, die sich in meinem letzten Traum beinahe zusammengefügt hätten.
    Es ist alles da, wenn auch noch verschwommen, ich muss die Kamera in meinem Kopf nur scharf stellen, so wie ich vor ein paar Minuten das schemenhafte Gesicht unter der gelben Regenkapuze auf einmal klar und deutlich vor mir gesehen habe.
    Ich kann fast das gesamte Bild sehen.
    Aber eben nur fast.
    So umrunde ich Yolandas Hütte, Tonys Wohnwagen, die Zelte unserer Patchworkfamilie und zögere nur in der Nähe von Professor Camilleris Bungalow, der mir mit seinem Händchen für einen spannenden Plot sicher weiterhelfen könnte. Aber das würde mir jetzt nicht viel bringen. Wie er selbst sagte, nützen Bücher in bestimmten Situationen gar nichts.
    Etwas muss geschehen, und zwar bald, etwas, das diesen gordischen Knoten entwirrt und mir den roten Faden offenbart.
    Und es ist bereits geschehen.
    Das kann ich an Leticias erschrockener Miene ablesen, die mir auf dem steinigen Pfad entgegenläuft, ohne sich um das Hüpfen ihrer Brüste, ihre aufgelöste Frisur oder die Tränen zu kümmern, die ihr über die Wangen laufen. Sie ist nicht mehr sie selbst, mit allem, was ich einmal an ihr geliebt und später gehasst habe, sondern der Inbegriff einer zu Tode erschrockenen Mutter.
    »Sie haben die Kinder entführt, Juan! Juan, unsere Kinder!«
     

26
     
    »Selbstbeherrschung ist gut, aber nur in Maßen, mein Junge«, sagte die ehemalige Nummer Drei immer zu mir. »Jemand, der im Alltag nie unsicher wird und seine Energie darauf verwendet, stets eine gute Figur zu machen, selbst wenn er Zigaretten holen geht oder den Müll rausträgt, wird sich im Notfall garantiert in die Hose machen. Und es ist schwer, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, wenn man die Hosen voll hat, weil man erst dann merkt, dass das eigene Leben furchtbar stinkt.«
    Wie in fast allem hatte die alte Nummer Drei auch hiermit recht. Die Tage voller Zweifel und Anspannung liegen hinter mir. Jetzt sehe ich klar, alles passt zusammen, und was nicht ins Bild passt, ist nicht so wichtig.
    Ich führe Leticia ein wenig abseits unter die Bäume und zwinge sie, mir in die Augen zu sehen.
    »Hast du darüber sonst noch mit jemandem gesprochen?«
    »N-nein. Ich darf es nur dir sagen, haben sie gesagt, und wenn ich die Polizei verständige, würden die Kinder es büßen, ich …«
    »Wann haben sie das erste Mal angerufen?«
    »Vor etwa einer Stunde. Davor habe ich mir keine Gedanken gemacht, ich dachte, sie sind am Strand oder …«
    »Ist Beltrán schon zurück?«
    »Er muss jeden Moment kommen. Er hatte gestern Abend einen Zwischenfall mit dem Auto, deshalb …«
    »Ruf ihn an. Sofort.«
    Ohne Fragen zu stellen, tut Leticia wie geheißen; sie wählt die Nummer des Richters, und als er sich meldet, reicht sie mir das Handy.
    Ich gehe ein paar Schritte beiseite, damit sie die Details des Gesprächs nicht hören kann, aber sehr wohl den entschiedenen Ton, den ich garantiert beibehalte, bis meine Kinder in Sicherheit sind. Ich gehe keine Zigaretten holen und bringe auch nicht den Müll raus, es steht etwas Wichtigeres auf dem Spiel als mein eigenes Leben, und ich habe nicht vor, mir in die Hose zu machen. Und wie Camilleri sagte, nützen einem in

Weitere Kostenlose Bücher