Wir toeten nicht jeden
Richtung, und deshalb muss ich weiter dem Pfad hoch über den Klippen folgen, während unter mir das Wasser gegen die Felsen klatscht und Worte aus Gischt formt, die ich längst vergessen glaubte, es sind die Namen meiner fünfzehn Toten. Sie rufen mich nun, lassen mich die Felsen hinunterklettern, an denen ihre Namen unablässig und verlockend wiederhallen, ein Blick hinab wird mir ein für alle Mal zeigen, wer ich bin – und plötzlich falle ich, falle von einer lächerlichen Höhe hinab ins Wasser, falle wie ein Stein von neununddreißig Jahren, und in den Fluten merke ich, dass ich das Schwimmen verlernt habe, weil ich wieder ein kleiner Junge namens Osvaldo bin, der ertrinken wird, während sein Vater und seine Mutter in einer galicischen Bucht miteinander eins werden. Bei jedem Wellenschlag gegen die Felsen, mit jedem Schnappen nach Luft schreie ich einen der vergessenen Namen, bis keiner meiner Toten mehr übrig ist und ich die Lebenden anrufe, Wasser und salzige Tränen schluckend, Leticia, Leti, Antonio, Tony, Yolanda und Claudia, deren Namen sich vermischen und gleich wieder trennen, während die frühere Nummer Drei, mein Toter Nummer fünfzehn, mich daran erinnert, dass ich zwar immer gern geschwommen bin, mich dabei aber nicht nass machen wollte, und das ist nun mal unmöglich, mein Junge .
Und dann gehe ich unter.
Ich gebe auf, komme aber nicht auf den Gedanken, dass ich diesen Tod verdient habe, denn mir bleibt keine Luft mehr für eine späte Reue. Die Strömungen zerren an mir, sind so stark, dass ich mich am liebsten mitreißen lassen würde, es gibt nichts Mächtigeres als sie, nichts, das mich diesen Strudeln entreißen könnte, die mich immer tiefer hinabziehen – bis mich auf einmal eine andere mächtige Strömung packt, mich umklammert, mit mir an Land schwimmt und mich dort im Morgengrauen aus dem Wasser zieht. Und bevor ich ohnmächtig werde, sehe ich Kommissar Arregui in die Augen und sage:
»Danke, Papa.«
Es riecht nach Kaffee, als ich langsam wieder zu mir komme. Ich bin in einer Hütte, aber es ist nicht die von Yolanda, sie sieht zwar fast genauso aus, bietet aber doch etwas mehr Komfort, wie man ihn den Angestellten sicher nicht zugesteht. Trotz der geschlossenen Vorhänge verrät der hereindringende Lichtschein, dass die Sonne bald untergeht. Arreguis Gesicht, das sich über mich beugt, gleicht inzwischen nicht mehr dem meines Vaters, trotzdem flößt es mir Vertrauen ein, weshalb ich beinahe noch einmal wegdämmere.
Hier bin ich also wieder.
Die Gegenwart des Polizisten rät mir allerdings, so zu tun, als sei ich noch ganz schwach. Er reicht mir einen Becher Kaffee, ohne etwas zu sagen.
»Ich wollte mich nicht umbringen«, sage ich nach ein paar Minuten mit einer Stimme, die schon fast wieder wie meine eigene klingt.
»Ich weiß. Du bist kein Mensch, der Selbstmord begeht, Juan. Für dich gibt es nur eine Lösung: Du musst dich an deinem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen.«
Ich nicke und frage ihn dann, wie spät es ist. Halb sieben. Ich habe Hunger, und Arregui bietet sich an, im Restaurant einen Imbiss zu holen. Ich nehme dankend an und schließe gähnend die Augen.
Als ich sie wieder aufmache, ist er fort.
Schnell springe ich auf und beginne den Schrank zu durchsuchen.
Unter den Schubladen werde ich fündig.
Ein vergilbter Umschlag mit etlichen Fotos.
Manche sind alt, andere ganz aktuell, und ich bin auf allen drauf, auch wenn ich manchmal Perücken trage, eine andere Nase, Augen- oder Haarfarbe habe. Die ältesten Fotos beunruhigen mich nicht, sie zeigen mich mit Claudia, wie wir aus einer Kneipe kommen oder gerade ein Theater oder ihren Wohnblock betreten. Die neueren Fotos hingegen zeugen von einer professionellen Observierung; soweit ich feststellen kann, beweisen sie nichts, doch gibt es genug Verdächtiges darauf, damit ein scharfsinniger Kommissar sich Fragen stellt.
Viele Fragen.
Schnell verstecke ich den Umschlag wieder und lege mich ins Bett, denn er wird bald zurück sein. Aber etwas lässt mir keine Ruhe, und so stehe ich nochmals auf und werfe einen Blick in den Kühlschrank. Wie vermutet, ist genug da, um etwas Schmackhaftes zu zaubern. Und im Küchenschrank finde ich zudem noch etliche Konserven. Arregui stammt aus dem Norden Spaniens und hat einen feinen Gaumen. Und er kann kochen. Er hätte nicht ins Restaurant gehen brauchen. Nicht jetzt.
Er hat mich allein gelassen, damit ich seine Sachen durchwühle.
Damit ich die Fotos finde.
Und damit
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