Wir waren nie Freunde
einiger Zeit öffnet sich der Wald. Ein riesiges Moor erstreckt sich vor uns. Aus ihm ragen nur einzelne niedrige Krüppelkiefern hervor. Jetzt haben wir wirklich das Gefühl, ganz woanders zu sein. Weit weg von der Stadt, weit weg von allem, von McDonald's und Seven Eleven und weit weg von dem alten, guten Astrakanvägen.
Philip bleibt stehen und guckt auf die Karte.
»Das ist das Elchmoor«, sagt er.
Ich pinkle genau an den Rand des Moors. Ein Specht klopft irgendwo hinter uns.
»Ein Schwarzspecht!«, bemerkt Philips Stimme so nebenbei.
Ich gehe zu ihm und schaue auch auf die Karte. »Ist es noch weit?«
»Wir müssen um das Moor herum und dann nach Norden.« Er fährt mit dem Finger über die Karte, aber als der Finger anhält, ist die Kane schon zu Ende, und Philip zeigt ein Stück von der Kartenseite entfernt in die Luft. »Ist das nicht mehr auf der Karte drauf?«
»Nicht auf dieser.«
»Haben die Leute die Stelle deshalb noch nicht entdeckt?«
»Kann schon sein.«
Wir wandern um das Elchmoor. Zwei Kraniche flattern wütend trompetend über das Moor. Ich denke: Jetzt bin ich wirklich in der Wildnis.
Dann ist der Weg plötzlich zu Ende. Es steht ein Schild dort, aber das ist so verrostet, dass man es nicht mehr entziffern kann.
»Hier entlang«, sagt Philip und radelt weiter in den Wald hinein.
Das ist kein richtiger Weg mehr, sondern nur ein Pfad, der sich durch den Wald ringelt. Ich kann nicht ver stehen, wie Philip den findet.
Plötzlich habe ich das Gefühl, als wären wir in einen anderen Wald gekommen. Ich weiß nicht, was eigentlich passiert ist, aber irgendwie müssen wir eine unsichtbare Grenze überschritten haben. Die Bäume sind höher, die Stämme gröber, hier und da liegt ein riesiger Felsblock, der mit dunkelgrünem Moos bewachsen ist. Ameisenhügel liegen dicht an dicht wie Hochhäuser in den Vororten.
Wir sehen einen Haufen Elchlosung, die noch dampft. Ich denke an Philips Hundehaufen, den er in die Hand genommen hat. Elchlosung ist schön. Ich finde, sie ähnelt irgendwie diesen länglichen Nüssen, die sich kaum knacken lassen und die Kristin unbedingt jedes Mal zu Weihnachten dabeihaben muss.
Ich bemerke, dass auch der kleine Trampelpfad, dem wir eine Weile gefolgt sind, jetzt zu Ende ist. Er hat aufgehört, ohne dass wir es bemerkt haben, als wäre er ganz heimlich und leise im Wald versickert.
Hat er irgendwohin geführt? Oder: Ist das hier überhaupt irgendwo?
Wir halten an, schauen uns um, die Luft erscheint kräftig und etwas feucht.
»Wie ist es möglich, dass es so etwas noch gibt«, meint Tove. »Das ist ja ein Gefühl, als wären wir in einer anderen Zeit gelandet.«
Wir verstecken die Räder unter ein paar jungen Kiefern. Da wird sie niemand finden.
Philip sieht zufrieden aus.
»Das hier ist ein richtiger Wald«, sagt er. Er schultert den schweren Rucksack. Der Hase winkt ein wenig mit seinen Pfoten.
Das Feuer brennt jetzt besser. Ich mache Dinge, ohne darüber nachzudenken. Mein Blick ist weit weg, meine Gedanken irgendwo anders.
Manchmal habe ich das Gefühl, als versuchte ein Teil von mir sich davonzustehlen, als würde ich in zwei Teile zerrissen werden. Als wäre ich kurz davor, aufgegeben zu werden – auch von mir selbst. Ich bilde mir ein, dass es mein Geist ist, mein Ich, das von hier fort möchte. Ich meine richtiggehend fühlen zu können, wie es kämpft und zerrt, um sich freizumachen, von dem Fleisch loszukommen, das es festhält.
Wenn wir jetzt getrennt werden, denke ich, wenn mein Ich sich wirklich losreißt und mich hier zurücklässt, dann werde ich sterben müssen. Ich habe einmal von so etwas wie Erlebnissen nahe dem Tod gehört. Ich frage mich, ob es sich hier auch um so etwas handelt. Ich brauche etwas zu trinken. Etwas zu trinken und etwas zu essen.
Ich kämpfe mich zum Sumpfufer hinunter. Tauche meinen Kopf in das braune Wasser, schlürfe es in mich hinein. Bleibe eine Weile dort sitzen, keuche mit heraushängender Zunge, schöpfe Kraft. Nicht einschlafen, denke ich. Jetzt nur nicht einschlafen! Ich schleppe mich zurück über den Berg, bleibe lange Zeit mit geschlossenen Augen liegen und warte, dass mein Atem wieder normal fließt.
Ich bleibe vollkommen still liegen, bis ich ein Geräusch zu hören glaube. Dann komme ich vorsichtig hoch, spitze die Ohren und wittere mit der Nase, kann aber keinen fremden Duft wahrnehmen.
Ein Fuchs müsste man sein Wir gehen im Gänsemarsch durch den Wald. Philip mit dem Hasen zuerst, er hat den
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