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Wir waren nie Freunde

Wir waren nie Freunde

Titel: Wir waren nie Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
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schön. Und vielleicht hast du ja recht. In diesen Eiern ruht die Antwort, ruht die Welt. Wenn ein Ei sich öffnet, wird die Welt geboren. Jeden Morgen, wenn es hell wird, öffnet sich ein neues Ei. So ist es. So einfach! So fantastisch! In diesen blauen Eiern, da ruht alles, da ruhen wir und alle Vögel der Welt.
    Genauso ist es, Philip. Tatsächlich!
    Aber als ich das sage, als ich mich aus der Kiefer wieder herausgearbeitet habe und sage, dass er wahrscheinlich recht hat, dass er vielleicht die Antwort auf alles in einem blauen Ei gefunden hat, da schüttelt Philip langsam den Kopf.
    »Es gibt keine Farben, Kimmi«, sagt er. »Es gibt kein Blau, kein Rot, keine Goldfarbe, kein Grün. Nicht einmal den Mondschein gibt es. Der Mond ist nur ein dunkler Stein, der das Sonnenlicht reffektiert.
    Alles ist nur eine Frage der Spiegelung. Der verschiedenen Formen der Brechung des weißen Sonnenlichts. Und vielleicht ist letztendlich alles nur eine Spiegelung. Vielleicht gibt es gar keine Antwort, Kimmi. Vielleicht gibt es nicht einmal irgendwelche Fragen.«
    Das Drosselmännchen ist unruhig in den Kiefernspitzen hin und her geflogen. Jetzt fängt es an zu singen. Ich denke an Philips Worte. In gewisser Weise hat er recht. Wenn man weiter nachdenkt, so wie ich es oft tue, dann ist es ein Wunder, dass es Singdrosseljunge gibt. Dass Jahr für Jahr gleiche Junge aus solchen blauen Eiern schlüpfen. Wo ist der Bauplan dafür? Wer lehrt sie das Singen? Die Drossel in der Kiefer hinter uns singt den gleichen Drosselgesang, wie ihn Drosseln vor tausend Jahren gesungen haben.
    »Wie ist das möglich, Philip? Wie lernen die Vögel das Singen?«
    »Sie machen es nach«, sagt er. »Die Noten haben sie geerbt, die sind in den Genen, ja in ihrem Gehirn. Aber sie wissen nicht, wie man singt. Wie es klingen muss. Das lernen sie, indem sie ihre Väter nachahmen.«
    Ach so, denke ich. Durch Nachahmung. Ist es bei uns auch so? Bei uns Menschen? Dass wir andere nachahmen, unsere Väter? Und die, die keinen Vater haben, wen sollen die nachahmen?
    Als wir weitergehen, beginnen meine Gedanken wieder zu wandern. Ich denke an Kristin und Jim. Frage mich, was sie heute wohl tun. Ob sie Gartenmöbel gekauft haben. Oder ob sie gar nicht zusammen sind. Ob sie das vielleicht nur sind, wenn ich zu Hause bin. Ich spüre, wie sich mein Magen zusammenschnürt.
    Das Gefühl hatte ich heute Morgen auch, als ich mir die Zähne putzte. Kristin rief etwas aus dem Schlafzimmer. Ich ging auf den Flur um zu hören, was sie wollte. »Pass auf dich auf, Kim«, sagte sie durch die Tür, die einen Spalt weit offen stand. »Keine Sorge«, sagte ich. »Philip kennt den Wald in- und auswendig.«
    Der Zahnpastaschaum lief mir aus dem Mund, während ich sprach. Ich wischte ihn mit dem Fuß weg. »Tschüs!«, rief ich, als ich etwas später die Küchentür hinter mir zuziehen wollte.
    Nur Kristins Stimme antwortete: »Tschüs, mein Schatz.« In dem Moment, als ich aufs Fahrrad steigen wollte, fiel mir ein, dass ich die Brote im Kühlschrank vergessen hatte. Seufzend nahm ich die Zeitung mit, als ich noch einmal hineinging. Die Überschrift schlug mir in großen schwarzen Buchstaben entgegen. Ein vierjähriges Mädchen war von seiner Kindergartengruppe verschwunden, als sie draußen Zweige für Ostern pflücken wollten. Offenbar hatten sie das Mädchen bis jetzt nicht gefunden. Mein Gott, dachte ich. Das wird Kristin aufregen.
    Ich legte die Zeitung auf den Küchentisch und ging leise zum Kühlschrank.
    Vom Schlafzimmer her hörte ich Jim und Kristin. Sie stritten sich, und ich konnte hören, wie aufgebracht sie waren. Das Letzte, was ich hören konnte, war, dass Jim fluchte, wie er es nur tat, wenn er wirklich wütend war. »No, damn it!«, hallte es noch hinter mir, als ich wieder vorsichtig die Haustür zuziehen wollte.
    Mein Magen verkrampfte sich so sehr.
    »Was ist denn, Kimmi?«
    Ich wache aus meinen Gedanken auf.
    »Nichts. Habe nur an was gedacht«
    »Du hast ausgesehen, als hättest du einen Albtraum«, sagt Tove.
    Sie sieht amüsiert aus, aber auch etwas verwundert. Hält mir eine Plastiktüte mit irgendwelchen zerknitterten braunen Teilen hin, von denen ich annehme, dass es Pilze sein sollen.
    »Gut, was?«, fragt sie.
    »Was ist das denn?«
    »Morcheln.«
    »Kann man das essen?«
    Tove lacht mich aus.
    »Die sind total lecker, Kim. Wir werden sie zum Hasen essen. Gerösteter Hase mit Morcheln.«
    »Klingt nicht schlecht«, muss ich zugeben. Ich will noch mehr

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