Wir waren nie Freunde
Rücken. Wusste, dass er es war. Er hatte dich gesehen. Und gerade als er sich an mir vorbeidrängen wollte, schrie ich: »Tove! Lauf!«
Deine Augen flackern, wie eine Kerzenflamme, wenn man das Fenster öffnet. Du läufst los, verschwindest um die Ecke herum. Und ich gehe so schnell ich kann in die andere Richtung, kann noch hören, wie der Kerl hinter dir her flucht. Ich höre, wie er ruft: »Du da, komm zurück!« Und da merke ich, dass ich es bin, hinter dem er herruft, denn du bist schon weit weg. Da laufe ich auch los. Ich weiß nicht, ob das nötig ist. Ich tue es dir zuliebe, Tove. Damit er mich nicht über dich ausfragen kann.
»Was ist denn, Kimmi?«
»Nichts«, antworte ich. »Ich habe nur über etwas nachgedacht.«
»Wir haben uns verirrt.«
»Ich weiß.«
»Es wäre besser, wenn du helfen könntest, statt in Gedanken verloren herumzulaufen.«
»Ich habe an dich gedacht.«
»Kimmi, verdammt nochmal!.
»Okay, was sollen wir tun?«
»Ich weiß es nicht. Es wird bald dunkel.«
»Jetzt schon?«
»Es ist wahrscheinlich so um fünf Uhr herum.«
»Ich habe Hunger«, sage ich.
»Wir müssen uns ein Lager machen«, sagt Tove. Genau in dem Moment: ein Geräusch dringt durch den mäuschenstillen Wald. Es kommt so überraschend, dass wir beide erschrocken auffahren. Dann stehen wir stocksteif da und horchen. Wir halten uns bei der Hand. Ich frage mich, ob ich richtig gehört habe. Das klang wie ein langgezogenes Gebell. Fast wie ein Heulen. Das könnte Ronja sein. Wenn nun Criz doch gekommen ist. Oder war das gar kein Hund?
»Das klang ja fast wie ein Wolf«, sage ich leise. Tove bleibt lange unbeweglich stehen.
»Das war bestimmt ein Hund«, sagt sie dann.
Ich weiß nicht, wo ich zu Hause bin Wir stehen lange Zeit einfach nur still da und warten auf ein neues Geräusch, ein neues, heulendes Bellen. Ich meine hören zu können, wie Toves Herz arbeitet. Aber es kommt kein Bellen mehr. Der kalte Wald ist stumm. Die Bäume schweigen.
»Wir müssen einen Unterschlupf finden«, sagt Tove. »Sonst verirren wir uns nur noch mehr.«
Ein Stück entfernt steht eine Fichte. Wir kriechen unter die lang gestreckten Zweige. Sie bilden über unseren Köpfen ein grünes Dach. Unter ihnen gibt es einen trockenen Raum. Wir kauern dicht beieinander. Ich möchte meinen Arm um Tove legen, ich möchte ihr Haar in unserem piksigen Heim küssen, aber ich bin vollkommen durchnässt, und sie schüttelt sich abweisend und schiebt mich von sich. So hocken wir da und schauen die Schneeflocken an, die wie kleine Vogeldaunen heruntersegeln.
»Ich mag den Schnee«, sage ich. »Man wird so ruhig davon. Alles wird weicher, ruhiger, friedlicher. Zu Hause kann ich stundenlang am Fenster stehen und den Schnee betrachten.«
Ich schaue Tove an. Merke, dass sie gar nicht zuhört. »Mein Gott, was du da quatschst«, stöhnt sie. »Ich verabscheue den Schnee.«
Ich kann nicht einschlafen. Ich friere. Beim geringsten Geräusch zucke ich zusammen, obwohl ich weiß, dass es nur Tove ist, die Hände oder Füße bewegt. Ich nehme an, dass es so sieben oder acht Uhr abends ist. Kristin und Jim sitzen jetzt sicher beim Essen. Ich höre an Toves Atem, dass sie nicht schläft. Möchte wissen, ob sie genauso friert wie ich.
Ich ziehe mich in eine halb sitzende Stellung hoch. Dann erzähle ich Tove, wie Jim nach Schweden gekommen ist. Von den ersten Jahren hier, in denen er in der Papier- fabrik gearbeitet und abends Schwedisch gelernt hat. Danach hat er in der Fabrik aufgehört und Vollzeit studiert. Literaturwissenschaft und nordische Sprachen. Er hatte beschlossen, schwedisch zu werden, um ein neues Leben anzufangen und zu versuchen, das alte zu vergessen.
Anschließend ging er in die Lehrerhochschule von Malmö. Und ein paar Jahre später fing er an, in der Oberstufe zu unterrichten. Er hat erzählt, wie das am Anfang war, wie fremd für alle ein farbiger Lehrer war. Und wie hilfsbereit sie waren. Wie viel Unterstützung er bekam. Alles war in den Siebzigern laut Jim so einfach.
Ich erzähle, wie es war, bevor er nach Schweden gekommen ist, von seinen Jahren als Pilot in Vietnam. Und von der Zeit, als er desertierte.
Eine Einheit, mit der Jim in den Busch hinausgeflogen war, hatte eine Stadt der Erde gleichgemacht. Sie töteten mehrere hundert Menschen, Frauen, Kinder, Alte. Er sah alles vom Hubschrauber aus, sah, wie alles brannte. Die Häuser, die Tiere, die Kinder. Da hatte er genug. Er verschwand während eines Urlaubs daheim in
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