Wir waren nie Freunde
Michigan in den USA.
Heute ist Jim schwedischer als Kristin. Und ich, bei mir ist es wohl genau umgekehrt. Ich weiß nicht, wo ich zu Hause bin. Ich fühle mich amerikanisch. Manchmal denke ich, dass ich wahrscheinlich nach Michigan gehöre, dort zu Hause bin. Und ein andermal muss ich einsehen, dass das nicht stimmt, und dann weiß ich weder ein noch aus. »Es muss schrecklich gewesen sein, da im Vietnamkrieg«, sagt Toves Stimme.
Zunächst antworte ich nicht, sage aber nach einer Weile: »In Vietnam heißt das nicht Vietnamkrieg. Da nennen sie es den Amerikanischen Krieg.«
Ich wache davon auf, dass die Nadeln flüstern »Titt-ut, titt ut, titt-ut ...«, klingt es über meinem Kopf. »Titt-ut, tittut, titt-ut.« »Eine Kohlmeise«, denke ich. So klingt sie auch zu Hause am Astrakanvägen. Ich strecke den Arm aus, um Tove zu berühren, finde sie aber nicht. Ich öffne die Augen und sehe das Sonnenlicht durch das grüne Nadeldach hereinsickern. Etwas bewegt sich draußen. Es riecht nach Rauch. »Da ist sie«, denke ich. Sie macht Rauchsignale.
»Bist du wach?«, will Toves Stimme wissen.
»Fast«, murmle ich.
»Ich habe Tee gemacht«
»Oh, toll!«
Ich krieche unter der Kiefer hervor, sehe das kleine Feuer und eine rostige Konservendose, die darauf steht. Sie ist voll mit etwas Grünem, das im Wasser schwimmt. Die leere Tablettenhülse liegt neben dem Feuer.
»Was ist das?«, frage ich.
»Kiefernnadeln.«
Ich hole meinen Becher heraus, und Tove füllt ihn mit Tee, der eine leicht ölige Oberfläche hat. Ich blase auf die Flüssigkeit, halte den Becher eine Weile in beiden Händen. Dann probiere ich vorsichtig das heiße Getränk. »Wie findest du das?«
»Gar nicht schlecht«, sage ich. »Ich bin so hungrig, dass ich die Kiefernnadeln direkt vom Baum essen könnte.«
Wir schütten Erde auf das Feuer, treten es aus, und sicherheitshalber pinkle ich noch drauf. Die Glut zischt. Tove hat es eilig weiterzukommen. Ich muss weit ausholen, um mit ihr Schritt zu halten. Wir gehen einen Berg hinauf, von oben bietet sich uns wieder der gleiche Blick: noch mehr Wald, noch mehr Kiefern und Tannen. Wir gehen auf der anderen Seite wieder hinunter.
Nach einer Weile wird der Wald lichter. Wir kommen an einen See. Das ist nicht so ein kleiner finsterer Waldsee mit sich wiegenden grünen Moosrändern, sondern ein richtiger See. Ein See mit blauem Wasser, Buchten und Badefelsen. Ich freue mich, als ich ihn sehe. Habe das Gefühl, dass wir jetzt gerettet sind. Aber als wir über den See Ausschau halten, können wir kein einziges Haus entdecken, nicht einmal einen Badesteg oder ein Boot. Wir sehen kein Zeichen menschlichen Lebens.
Und wenn wir nie wieder zurückfinden!
Ich spüre, wie ich langsam Angst bekomme. Überlege, ob wir wohl sterben, wenn wir den Weg nicht wiederfinden. Was ist ein Menschenleben wert? Kann mir das jemand sagen? Kannst du das, Tove? Was haben wir hier auf der Erde zu tun? Haben wir überhaupt eine Aufgabe? Oder sollen wir einfach nur leben? Wenn genau das nun unsere Aufgabe ist, auf das Leben aufzupassen, auf jeden Tag mit Sonne und Regen?
Und was geschieht später, wenn wir nicht mehr da sind? Kann mir das jemand sagen?
Geht das Leben weiter ohne uns?
Was wird dann aus uns?
Ich nehme an, dass jeden Tag zehntausend Menschen sterben. Ist das in irgendeiner Form zu spüren? In jeder Sekunde stirbt ein Mensch. Kann das wirklich spurlos geschehen?
Wenn jemand das weiß, wenn jemand, der das hier liest, etwas gehört oder gesehen hat, was mit dem Leben zu tun hat, mit unserem Leben auf der Erde, so möchte er doch bitte ein paar Zeilen an Kim Cohen-Nilsson schreiben.
In Vietnam starben zwei Millionen. Hatte jemand Schuld daran? Menschen wie Jim, die ihren Dienst taten? Er flog seinen Bell-Hubschrauber, einen 205er mit zwei Piloten, Jim und Josef Parks, und zwölf Soldaten von der US Army.
Wo sind sie jetzt, alle, die erschossen wurden? Die von den Soldaten getötet wurden, die Jim dorthin flog? Sind sie neue Menschen? Andere, als sie waren? Oder werden sie in kleinen blauen Vogeleiern unter dichten Kiefern im Wald wiedergeboren und singen von ihrer Trauer und ihren Schmerzen, jeden Frühling wieder?
Ich weiß, dass er es bereut. (Bereuen es nicht alle hinterher?) Jim spricht oft darüber. Er kann es nicht fassen, wie er so blauäugig sein und diesen verdammten Krieg einfach so schlucken konnte. Niemand begreift das. Zumindest hinterher nicht.
Ich weiß, er hat versucht, damit fertig zu werden.
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