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Wir waren nie Freunde

Wir waren nie Freunde

Titel: Wir waren nie Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
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gewohnt, die Jims Soldaten zerstört haben?«, fragt sie.
    »Nein, nicht in My Lai. Kim wohnte in einer anderen Stadt. So etwas ist an mehreren Orten passiert. Weißt du, dass immer noch Tausende missgebildeter Kinder in Vietnam geboren werden, obwohl es doch fast dreißig Jahre her ist, seit der Krieg zu Ende ging?«
    Tove schüttelt den Kopf.
    »In den Krankenhäusern gibt es Räume voll mit großen Glasgefäßen, die Neugeborene enthalten. Kinder ohne Arme und Beine, Kinder mit Augen ohne Pupillen, Kinder mit ganz schweren Hirnschäden, Kinder ganz ohne Gehirn. Kinder, die ein Zeugnis für die Nachwelt geben sollen.«
    »Hör auf!«, schreit Tove.
    Ich weiß nicht, wie lange wir gehen. Wir bahnen uns unseren Weg zwischen den Bäumen, stolpern, straucheln, fallen, helfen einander wieder auf, reden nicht viel, sehen uns nicht um. Hören wir etwas? Ich weiß es nicht. Es ist, als wären wir in einen anderen Zustand gekommen. Als trotteten wir in einer Art Trance dahin. Vielleicht gehen wir die ganze Zeit auch nur im Kreis. So ein Gefühl ist es also, sich zu verirren, denke ich. Ich weiß nicht, wie lange Zeit es dauert, bis ich auf das Geräusch reagiere. Es muss schon eine Weile zu hören gewesen sein. Es donnert, denke ich. Mehr geschieht nicht in meinem Gehirn. Da wird kein Vergleich mit anderen Donnergeräuschen vorgenommen, die ich früher gehört habe. Es donnert irgendwo, registriere ich und stapfe weiter. Bis Toves Hand mich zurückhält.
    »Ein Auto?«, fragt sie.
    »Was?«, erwidere ich.
    »Ist das nicht ein Auto?«
    Ich versuche das Donnern genauer zu hören. Könnte das ein Auto sein? Hier im Wald?
    »Wieso glaubst du das?«, frage ich matt.
    »Weil es klingt wie ein Auto.«
    »Meinst du wirklich?«
    »Sei still, Kimmi! Es kommt näher. Da muss ganz in der Nähe eine Straße sein!«
    Wir bleiben stehen und lauschen auf das Donnern, das durch den Wald fegt und vielleicht ein Auto ist. Ein Auto, das einen Kiesweg entlangfährt. Ein Auto, das ziemlich schnell fährt, wie ich finde. Ich versuche die Richtung auszumachen, und als mir das gelungen ist, zeige ich in die Richtung, von der meiner Meinung nach das Geräusch kommt. Von dort. Dorthin müssen wir gehen. Da ist die Rettung.
    Unsere Füße werden ganz eifrig. Die Müdigkeit, dieser komaähnliche Zustand, die Gleichgültigkeit, alles ist wie weggeblasen. Jetzt sind wir wieder Kim und Tove, he and she. Das Geräusch ist verebbt. Es ist nach links hin verschwunden. Aber wir haben es gehört, und jetzt haben wir die richtige Richtung eingeschlagen, auf ein Geräusch zu, das uns aus diesem Wald führt.
    »Da! Da ist er!«
    Tove zeigt, und ich sehe einen hellen Streifen im Wald. Ohne die Erinnerung an das Geräusch wäre einem der nicht aufgefallen. Aber jetzt ist es irgendwie ganz selbstverständlich, dass da hinten ein Weg verläuft. »Herrlich!«, schreie ich. »Ein Weg!«
    »Welche Richtung?«
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht dahin.«
    Im Kies sind keine Reifenspuren zu sehen. Man kann nicht sehen, dass vor nur wenigen Minuten jemand hier entlanggefahren ist. Ein Hund würde das feststellen können. Und ein Wolf. Mit der Nase hätte er den Duftschleier von Abgasen wie einen Nebelstreifen über dem sich dahinschlängelnden Kiesweg finden können. Wir gehen los. Der Weg windet sich weiter. Manchmal können wir Felsstücke mitten auf der Fahrbahn sehen. Wir sprechen über den Sommer. Ich erzähle Tove, dass ich in die USA fahren werde, den ganzen Sommer bei Jims Schwester in Michigan wohnen soll. Und ich erzähle ihr von Michigan, von den riesigen Laubwäldern, von den blauen Seen und den wilden Bächen, in denen ich angeln will.
    »Und was machst du?«, will ich wissen.
    »Weiß ich noch nicht. Vielleicht jobben. Meine Mutter will das.«
    »Magst du Erdnussbutter?«, frage ich.
    »Was ist das?«
    »Das ist so eine Creme, die man aus Erdnüssen und Zucker macht. Man streicht sie sich aufs Brot. Statt normaler Butter. Die schmeckt saugut. Jim ist verrückt danach. Manchmal dudeln wir alte Elvis-Platten und verdrücken dabei Brote mit Erdnussbutter. Das ganze Haus bebt dann. Kristin sagt, sie kriegt schon vom bloßen Zugucken Pickel. Sie ist mehr der Biotyp, weißt du. Wenn ich noch eine Scheibe mit Erdnussbutter in meinem Rucksack habe, kannst du sie kriegen.« »Ich will deine alten Brote nicht. Ich mag keine Erdnussbutter.« »Welchen Aufstrich magst du dann?«
    »Weiß ich doch nicht. Ist mir auch scheißegal, Kimmi!« »Nein, sag doch mal. Irgendwas

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