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Wir waren nie Freunde

Wir waren nie Freunde

Titel: Wir waren nie Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
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Weg?«, will Philip wissen. »Es wäre schön, wenn ich ein paar Stunden schlafen könnte.«
    Niemand sagt etwas. Verstohlen gucken wir einander an. Wir wissen alle, dass nur Philip den Weg findet. Nur du, Philip, kannst das, du bist der Einzige, der die Pfade in diesem Urwald kennt.
    Aber so schwer kann es doch wohl nicht sein, zum Weg zurückzufinden? Zumindest nicht, wenn es hell ist. Schließlich sind wir ja gestern auch dort gegangen. »Ja, vielleicht«, sage ich, denn ich finde, Philip sollte sich ein wenig ausruhen. »Wenn jemand mitkommt.« Ich schaue Tove an.
    »Super, Kimmi«, sagt Philip.
    »Ich komme mit«, sagt Tove.
    »Prima«, sage ich.
    »Ihr müsst das Essen machen, wenn wir uns verspäten«, sagt Tove. »Die Morcheln liegen im Windschutz.«
    Der Weg ist die Mühe wert Als wir aufbrechen, hat es aufgehört zu schneien. Die Sonne schaut hervor, und ich bin zufrieden mit meiner Entscheidung.
    Ich fühle, dass es gutgehen wird. Wir werden ein paar schöne Stunden zusammen haben.
    Die Sonne verändert alles. Der Wald erwacht wieder zum Leben. Er singt. Der Schneehagel auf dem Boden schmilzt, wird vom Sumpf aufgesogen, wie das Salz auf einer Tomatenscheibe. Es dampft, der Wald atmet aus. »Wir müssen direkt nach Westen gehen«, sagt Tove. Sie lässt die Hand sinken, die sie vors Gesicht gehalten hatte, um sich vor dem Sonnenlicht zu schützen, das durch die Bäume fällt.
    Ich nicke und gehe neben ihr. Mir fällt das mit dem Licht ein, dass sie nicht so viel Licht verträgt. Dann gleitet dieser Gedanke wieder davon. Es ist schön, ohne Rucksack zu gehen. Wenn die Sonne den Weg weist. »Das wird ein schöner Tag«, sage ich.
    »Das hoffe ich«, erwidert Tove.
    Einige Worte von Karin Boye tauchen in meinem Schädel auf. Sie schrieb von dem Weg und dem Ziel. Dass es der Weg selbst ist, der das Ziel bildet. Es nicht darum geht, anzukommen. Daran muss ich ab und zu denken. Alle haben das ja mal abgeschrieben. Haben ihre Version davon gemacht. Aber Karin Boye war die Erste. Das behauptet jedenfalls mein teacher. Ich kann einige Zeilen auswendig. Ich kann fast das ganze Gedicht auswendig. Ich weiß nicht, woher das kommt. Das klebt sich bei mir fest. Jetzt finde ich, es passt zu uns. Ich erzähle es Tove, deklamiere für sie:
    Der größte, das ist nicht der satte Tag.
    Der beste ist der voller Durst und Plag.
    Zwar ist in unsrer Reise wohl ein Sinn versteckt Doch ist's der Weg selbst, der die Mühe wert und unsre Kräfte weckt.
    »Was ist das denn?«, fragt Tove. »Ein Gedicht?« Sie spricht das Wort etwas herablassend aus, fast verächtlich. Das tut mir weh. Nicht du, Tove. Mein Engel aller Engel. Du musst es verstehen.
    »Karin Boye«, sage ich schnell. »Hast du es wirklich noch nie gehört?«
    »Nein«, erklärt Tove. »Ich mache mir nichts aus Gedichten. Man kapiert ja sowieso nichts dabei.« Schweigend gehen wir weiter. Ich spüre, wie ein Abstand zwischen uns entstanden ist. Das mit Karin Boye war einfach ein Versuch. Ich dachte, dass sie auch so eine ist. So eine wie ich. Aber das schlug fehl.
    »So, so«, sagt sie nach einer Weile. »Du bist also ein Dichter, Kimmi.«
    Darauf antworte ich nicht. Mir gefällt ihr Ton nicht. Aber ich verzeihe dir, Tove. Ich werde dir immer verzeihen. Bis zum Ende der Welt. Ich bitte Karin Boye, ein wachsames Auge auf uns zu haben. Bei Tove und mir zu sein. Ich denke an die Samstagabende daheim. Wenn Jim im Ledersessel sitzt und liest und Kristin vor dem Fernseher liegt und Wein trinkt, mit den Kopfhörern auf den Ohren. Ab und zu bittet Jim sie, die Kopfhörer abzunehmen, weil er auf etwas gestoßen ist, was sie auch hören soll. Das wir alle drei hören sollen. Und dann macht sie das, und Jim liest einige Zeilen von Gunnar Ekelöf oder Harry Martinson vor. Und Kristin und ich hören zu. Dann schiebt sie wieder die Kopfhörer an Ort und Stelle und spült Ekelöf mit einem Schluck Wein herunter. Ich denke nu, »Bravo Jim, das hat gesessen!« Dann wende ich mich wieder dem Computer zu. Für eine Weile versinken wir jeder in unsere Tätigkeit. Aber ich spüre, dass wir zusammen sind. Und ich weiß, dass es bald wieder so eine Art Werbepause von Jim geben wird. Vielleicht etwas von Tomas Tranströmer. Und ich fühle, dass ein Teil davon sich festsetzt. Es setzt sich in meinem Kopf fest, und ich kann es wieder herausholen. Ich habe ganze Gedichte in meinem Kopf. So bin ich erzogen worden, mit Poesie und Erdnussbutter. Aber für mich zählen nicht Tranströmer oder Ekelöf.

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