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Wir waren nie Freunde

Wir waren nie Freunde

Titel: Wir waren nie Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
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Er ist nach dem Krieg wieder dorthin gefahren, zurück in die Stadt, die ausradiert worden war. Nach My Lai, oder Song My, wie sie auf Englisch heißt. Er hat dort immer wieder gearbeitet. Hat beim Bau einer Schule geholfen und dafür gesorgt, dass sich um elternlose Kinder gekümmert wurde. Einige von ihnen sind durch Jims Kontakte in die USA adoptiert worden.
    Ich weiß, er hat zumindest etwas versucht.
    Jedenfalls ich weiß es.
    Es gibt ein Mädchen mit dem Namen Kim Wir schauen uns um. Ein Baum, denke ich. Das müsste das Beste sein. Ich will einen Baum hochklettern. Will mich umschauen.
    »Da können wir hochklettern«, sage ich und zeige auf eine Kiefer an einem Berghang.
    Tove nickt.
    Wir ziehen uns auf den untersten Zweig hoch. Klettern weiter. Bis wir ein Stück hochgekommen sind. Dort setzen wir uns zurecht. Atmen schwer. Lauschen. Die Stille hallt im Wald. Kein einziger Laut ist um uns herum. Nicht einmal ein kleiner grauer Vogel. Was ist hier los? Ich schaue Tove an, aber sie reibt sich nur die linke Schläfe mit der Handfläche.
    Ich mache ihr ein Zeichen, hier zu warten, dann klettre ich weiter hoch. Ich klettre, bis ich merke, wie es schaukelt, wie die Baumspitze scheinbar zur Seite pendelt. Da schaue ich nach unten. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich habe den Stamm fest umklammert. Blicke mich um, zur Seite. Dann zur anderen Seite. Ich sehe Wald. Ein endloses Meer grüner Nadelbäume. Ich fühle mich wie ein Schimpanse im Dschungel. Klettre wieder zu Tove hinunter.
    Sie schaut hoch, verfolgt mich mit ihrem Blick, stellt eine wortlose Frage. Ich schüttle den Kopf.
    »Nichts«, sage ich. »Man kann nichts sehen.«
    Ich lasse mich neben ihr auf den Ast sinken. Schweigend bleiben wir eine Weile so sitzen. Überlegen, welche Möglichkeiten uns bleiben. Warten, dass etwas passiert. Aber nichts passiert.
    »Was sollen wir tun?«, fragt Tove.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Dann erzähl doch ein Gedicht.«
    Stattdessen erzähle ich von Kim:
    »Es gibt ein Mädchen, das heißt Kim. Ich glaube, sie war so ungefähr fünf Jahre alt, als es passierte. Sie wohnte in einer kleinen Stadt auf dem Lande zusammen mit ihrer Familie. Sie war fröhlich und zufrieden, wie die meisten Kinder. Ja, vielleicht sogar fröhlicher als die meisten, denn alle, die Kim gekannt haben, sagen, dass sie damals immer lachte. Sie lachte über alles, einfach weil sie ein Kind war, dem es gut ging und das den ganzen Tag spielte, obwohl doch Krieg in ihrem Land herrschte. Eines Tages warfen amerikanische Flugzeuge Napalmbomben über Kims Stadt ab. Frage mich nicht, warum. Ich weiß es nicht.
    Aber ich habe das Foto von Kim gesehen. Alle haben das Foto von Kim gesehen, wie sie mit anderen Kindern zusammen die Landstraße entlangläuft. Die Kinder versuchen zu fliehen. Kim ist nackt, denn ihre Kleidung ist verbrannt. Sie läuft direkt auf einen amerikanischen Fotografen zu. Sie schreit vor Schmerzen. Die Haut hängt ihr in Fetzen herunter. Sie hat auf mehr als der Hälfte ihres Körpers Brandwunden dritten Grades. Sie läuft nackt im Fernsehen, in allen Zeitungen, direkt auf alle Menschen auf der Erde und im Himmel zu. Die ganze Welt sieht sie. Die ganze Welt sieht die nackte fünfjährige Kim, deren Haut wie zerfetztes Tuch an ihr herunterhängt.
    Jim hat das Foto von Kim auf seinem Schrank im Lehrerzimmer. Kim war diejenige, die den Krieg beendet hat, sagt er. Ich weiß nicht, wie viele Städte auf die gleiche Weise wie ihre bombardiert worden sind, aber es war das Foto von Kim, das diesem Wahnsinn einen Riegel vorgeschoben hat. Das war zu viel. Das war zu offensichtlich. Der Krieg bekam das Gesicht eines Kindes. Kim lebt immer noch. Jim hat erzählt, dass sie in Kanada lebt. Sie ist verheiratet und hat selbst Kinder. Ihre Haut ist voller Wunden, und sie hat immer noch Schmerzen. Sie ist siebzehn Mal operiert worden. Aber sie lebt. Sie hat den Krieg beendet.
    Es gibt ein Mädchen mit dem Namen Kim«, sage ich. »Hast du schon mal von ihr gehört, Tove?«
    Sie schüttelt den Kopf. Tränen laufen ihr die Wangen hinunter.
    Wir klettern hinunter. Ich reiße mir die Haut an einem abgebrochenen trockenen Zweig auf, der aus dem Stamm herausragt. Ein roter Strich zeigt sich auf der Innenseite meines Arms. Ein bisschen Blut sickert an dem Riss entlang.
    Wir trinken Wasser. Das Seewasser schmeckt nicht besonders gut. Ich spüle den Arm am Ufer ab. Die Schürfwunde brennt. Tove streicht mit der Hand darüber. »Dieses Mädchen Kim, hat sie in der Stadt

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