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Wir waren unsterblich (German Edition)

Wir waren unsterblich (German Edition)

Titel: Wir waren unsterblich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimon Weber
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schien durch die leeren Fensterrahmen und ließ den Staub in der Luft aufblitzen. Eine gelbe, beinahe goldene Welt.
    Das hustende Motorengeräusch des Traktors näherte sich und Markus spähte durch einen Spalt in dem großen Tor. Dort brachte der Bauer mit seinen Leuten das Heu hinauf. Ich wusste noch immer nicht, wie er das schaffte. Warfen sie die Ballen? Über die Distanz von nahezu drei Metern? Bauer Grote war ein riesiger, beinahe quadratischer Kerl. Ich traute im das glatt zu.
    „Er fährt vorbei“, sagte Markus.
    Leo kramte ein paar grüne Brocken hervor und befreite sie von einigen Krümeln und Fusseln. Dann stopfte er sich das Zeug in den Mund.
    „Wollt ihr auch was?“ Es klang eigentlich wie „Woht ih au wa?“, denn was immer er da in den Tiefen seines Anoraks entdeckt hatte, bot seinen Zähnen eine Menge Widerstand.
    Hilko verzog das Gesicht. Markus hob abwehrend beide Hände. Leo hatte zwei Brüder und vier Schwestern. Sein Vater hatte Mühe, die Familie zu ernähren. Leo bekam nie ein paar Mark zugesteckt. Außer an seinem Geburtstag. Der war im Juni. Bei seinem letzten gab er uns allen ein Eis aus und das Geld war futsch.
    „Was hast du denn da?“, fragte ich aus reiner Höflichkeit. Leo brachte keine Schokolade oder Bonbons mit. Er nahm aus dem Küchenschrank, was sich gerade anbot und von seiner Mutter hoffentlich nicht vermisst wurde: ein paar Brocken Kandiszucker, Rosinen oder – das war der Tag, an dem ich erkannte, wie schlecht es seiner Familie gehen musste – eine Tüte mit Paniermehl.
    Er schluckte. Ich sah deutlich, wie sich etwas Leos Kehle hinunterzwang. „Zitronat.“
    „Später vielleicht.“ Ich versuchte völlig normal zu klingen.
    „Ich möchte!“ Töffel schob sich an mir vorbei und streckte die Hand aus. Er kaute, ohne eine Miene zu verziehen, und sah sich dabei nachdenklich um. „Ich weiß, wie wir den Bauern austricksen.“
    Wir waren ziemlich verblüfft. Töffel hatte sonst nie Ideen, geschweige denn eine, die auch nur im geringsten nach Risiko klang. Er war noch vorsichtiger als ich.
    Töffel deutete auf die Heuballen. „Es sind jetzt so viele, dass es nicht auffällt.“
    „Was auffällt?“ Hilko rauchte schon wieder. Ich hielt das für ziemlich gefährlich zwischen dem ganzen trockenen Zeug, schwieg aber.
    Töffel bekam vor Aufregung rote Ohren. „Wir ...“ Für einen Moment verlor er den Faden. Er nahm einen Schluck aus der noch fast vollen Bierflasche in seiner Hand. Vielleicht bereitete ihm Leos Zitronat Kummer. Er wischte sich den Mund ab. Töffel hatte die kleinsten Hände von uns. Mit ganz zarten, kurzen Fingern und abgekauten Nägeln.
    „Wir bauen uns ein Versteck“, begann er neu. „Da!“
    Alle folgten seinem kleinen Zeigefinger – Babypfoten hatte Markus einmal halblaut gespottet, Töffel aber anschließend einen freundschaftlichen Knuff in die Seite verpasst. Wir starrten die meterhoch gestapelten Ballen an.
    „Wir nehmen die inneren Heuballen raus und packen sie woanders hin. Das fällt bei der Menge keinem auf. Vorn lassen wir eine Wand stehen. Wenn der Grote kommt, verstecken wir uns dort. Der findet uns nie.“
    Markus und Hilko grübelten, Leo kramte nach Zitronat und ich sagte: „Gute Idee! Wenn wir das in der linken Ecke machen, haben wir das Fenster im Rücken. Als Fluchtweg. Falls doch etwas schief geht.“
    Töffel strahlte mich an. Hilko dachte nach und nickte dann.
    Wir brauchten eine ganze Stunde, um unser Versteck auszubauen. Anschließend kletterten wir zur Probe hinein. Es gab uns ein gutes Gefühl. Wir waren für die Außenwelt unsichtbar geworden. Duftende Wände aus gepresstem Stroh umgaben uns. Wir legten uns auf den Boden und betrachteten durch die zerborstenen Fensterscheiben den Acker hinter dem Hof.
    Ein einzelner Raubvogel kreiste in der Luft. Sein heiserer Schrei drang zu uns herüber. Untermalt von dem nie endenden Verkehr der nahen Autobahn. Plötzlich stieß der Vogel steil herab und bohrte seine Krallen in einen zuckenden, grauen Pelz. Das Kaninchen bäumte sich auf und versuchte zu entkommen. Es schlug keine schnellen Haken mehr, schaffte nur einen taumelnden Hopser und der Raubvogel stakste ohne Eile – geradezu überheblich – über die vom Pflug aufgewühlte Erde. Sein schnabelbewehrter Schädel zuckte dabei vor und zurück.

    Das Licht des Tages wurde schwächer. Es würde noch für ungefähr eine Stunde hell sein. Fast unmerklich verlor der Himmel sein Blau. Am Abend versank der alte Bauernhof in

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