Wir wollen Freiheit
Die ständige Wiederholung von wichtigen Bildern und Artikeln – indem diese immer wieder gepostet werden – steigere den emotionalen Effekt. So sind nicht nur alle Khaled Said; Khaled Said ist auch überall: Es ist schwer im Sommer 2010, Facebook aufzumachen, |79| ohne das Bild seiner verstümmelten Leiche zu sehen. Wael Ghoneim beschreibt später in einem Interview mit der U S-Zeitschrift »Times«, dass es sein Anliegen gewesen sei, die Menschen auf der emotionalen Ebene zu packen.
Facebook ist in Ägypten und den anderen Ländern der Region auch so verbreitet, weil den offiziellen Medien nicht zu trauen ist. Ab 2004 spielen Blogger eine wichtige Rolle: Sie schreiben, worüber die anderen Medien schweigen. Allerdings überfordert die Fülle von Blogs und Internetseiten viele. Bei Facebook posten Freunde interessante Artikel, die sie auf allen möglichen Seiten gefunden haben. Nach dem Motto: Lies das, das ist interessant, reichen sie diese weiter. »Wenn was aktuell passiert, gucke ich
Al Dschasira
. Ansonsten lese ich, was meine Freunde auf Facebook posten. Damit bin ich gut genug informiert. Man muss halt die richtigen Freunde haben«, beschreibt Mariam Abdel Latif, die nach eigenen Angaben 20 Stunden am Tag mit Facebook verbringt.
»Es gibt zudem einen schnellen Informationsfluss. So wollte Mubarak ja zwischenzeitlich die Brutalität der Polizei seinem Innenminister in die Schuhe schieben. Aber so etwas geht bei Facebook nicht durch. Da weiß dann natürlich jemand aus der Gruppe von Freunden, dass Mubarak der Oberkommandierende der Polizei ist und der Nächste postet schon: ›Jetzt reicht es, Mubarak!‹«, beschreibt Ghada al Akhdar.
Die Karikaturistin Samah Farouk hat bereits ein gutes Jahr vor dem Tod von Khaled Said angefangen, ihre Freunde über Facebook mit Karikaturen zu versorgen: »Der Krieg in Gaza im Januar 2009 war für mich der Start«, sagt sie. Sie richtete sich zunächst gegen Israel. Später zeichnete sie über die Korruption und die Gewalt der Regierung Mubarak. Den Präsident persönlich setzt sie allerdings erst im Januar 2011 ins Bild. Vorher war ihr das zu heikel. Jeden Tag schickt Samah Faruk eine Karikatur an ihre Freunde. Es sind immerhin 1500 und deren Seiten werden wiederum von deren |80| Freunden gesehen. So finden diese Bilder eine weitere Verbreitung als so manche Tageszeitung. »Es kam dann im Dezember/Januar die Idee auf, den Protest auf die Straße zu verlegen und wir haben dafür geworben«, erzählt Farouk: Es sei lustig gewesen, die Facebook-Freunde dann auf dem Tahrir-Platz auch mal in Wirklichkeit zu treffen.
Als am Tag nach dem Sturz von Präsident Ben Ali in Tunis auf der Seite »Wir sind alle Khaled Said« der Aufruf zum Tag der Revolte am 25. Januar auftauchte, fanden es viele lästig, noch knapp zwei Wochen zu warten. Asma Mahfouz beispielsweise: »Ich gehe jetzt zum Tahrir«, schreibt sie auf ihre Seite und stellt sich mit einem Plakat auf den Platz. Ihre Aktion zeigt, dass der Schritt aus Facebook in die Realität möglich ist. Am 18. Januar postet sie ein Video: Die schmale Frau mit grauem Kopftuch schaut traurig in die Kamera. »Ich habe gesagt, dass ich zum Tahrir gehe und habe meine Nummer gegeben, damit andere mitkommen. Es ist niemand gekommen außer drei Jungen. Dafür kamen drei Mannschaftswagen Sicherheitskräfte, um uns zu terrorisieren«, sagt sie und fordert die Menschen auf, am 25. Januar zur Demo zu gehen: »Bleib nicht zu Hause sitzen und verfolge, was auf Facebook passiert. Damit machst du dich schuldig. Komm und demonstriere!«, sagt sie: »Wenn du ein Mann bist, dann komm heraus am 25. Januar, demonstriere und beschütze Mädchen wie mich!« Azma Mahfouz wird später von einer U S-Zeitschrift als Jeanne D’Arc der Revolution bezeichnet.
»Am 25. Januar war die Polizei dann total erstaunt, dass so viele Leute tatsächlich auf die Straßen kamen. Sie konnten es sich nicht erklären und behaupteten deswegen, wir seien von fremden Mächten bezahlt«, sagt die Wissenschaftlerin Ghada al Akhdar. Es sei klar gewesen, dass die Revolte auf der Straße ebenso sein sollte wie auf Facebook: Friedlich, sicher und tolerant. »Etwas anderes konnten sich die Jugendlichen gar nicht vorstellen. Viele waren das erste Mal auf einer |81| Demonstration«, so Ghada Al Akhdar. Die Gewalt des ersten Abends brachte der Revolte Schwung: »Einer postete, sie haben uns angegriffen, das ist schlimm. Der nächste: Mein Freund wurde angeschossen, ich
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