Wir wollen Freiheit
Dollar pro Tag. Viele der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz sind jedoch gar nicht so arm. Sie demonstrieren, weil es in Ägypten selbst dann keine Perspektive gibt, wenn man sich richtig ins Zeug legt. Sie wiederlegen die verbreitete These, dass ein voller Bauch schlecht Revolution macht. Sie haben keinen Hunger, aber trotzdem die Schnauze voll.
These 2: Es war eine Facebook-Revolution!
Es kursiert ein Witz in Ägypten: Die drei letzten ägyptischen Präsidenten treffen sich im Himmel und vergleichen ihr Ende. Gamal Abdel Nasser erzählt, dass es zwar so aussah, als sei er eines natürlichen Todes gestorben, doch in Wirklichkeit habe man ihn vergiftet. Böse schaut er seinen Nachfolger Anwar al Sadat an. Dieser sagt: »Mach dir nichts daraus, auch ich wurde ermordet. Von Terroristen sogar.« Hosni Mubarak |77| winkt ab: »Pah, nichts gegen mein Ende: Mich hat ein internationales Terror-Netzwerk auf dem Gewissen – Facebook!«
Tatsächlich spielen die sozialen Medien eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung und Vorbereitung der Revolutionen. Die Sozialwissenschaftlerin Ghada al Akhadr, 30, hat die Protestkultur im Internet untersucht: »Während Facebook in anderen Teilen der Welt für Geplauder unter Freunden benutzt wird, haben Jugendliche in der Arabischen Welt schon vor Jahren einen weiteren Diskussionsstrang aufgemacht. Facebook ist bei uns auch immer politisch«, erklärt sie. Mehrere Ebenen der Diskussion existieren nebeneinander und das führt zu einer besonderen Dynamik. »Die Diskussion ist nicht gesteuert, sondern wuchert vor sich hin. Alle füttern ihre Informationen hinein und dann ergibt eines das andere«, so Ghada al Akhdar.
Im April 2008 riefen einige Jugendliche über Facebook dazu auf, den Streik der Arbeiter von Mahalla al Kubra zu unterstützen. Am 6. April kam es in der Industriestadt zwei Stunden nördlich von Kairo zu einer Demo mit einigen Tausend Teilnehmern. Dabei wurde ein Foto von Präsident Mubarak zerrissen und die Demonstranten traten es mit Füßen. Dieses Bild berührte viele Menschen nachhaltig. Zum Beispiel Ai Beschir: »Bis dahin habe ich auf Facebook mit meinen Freunden vor allem über Sport und Musik geredet. Die
Bewegung des 6. April
, die bei dem Streik entstanden ist, hat das geändert«, erzählt er. Richtig losgegangen sei es dann, als er im vergangenen Sommer die Bilder von Khaled Said sah.
Im Juni 2010 wird Khaled Said in einem Internet-Café in Alexandria verhaftet. Er ist ein Blogger, allerdings kein sehr bekannter. Es reicht jedoch, dass die Polizei ihn auf dem Kieker hat. Khaled Said wird in einen Hauseingang gezerrt und dort – das berichten Augenzeugen – getreten und mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen. Kurze Zeit später stirbt er. |78| Er sei ein bekannter Drogendealer gewesen und sei erstickt, als er bei der Verhaftung die Drogen aus seinem Besitz geschluckt habe, so die offizielle Version. Bilder seiner Leiche – sein Gesicht trägt eindeutige Spuren von Schlägen – tauchen im Internet auf. Daneben ein Passfoto des 2 8-Jährigen : ein netter junger Mann mit kurzen Haaren und Kapuzenpulli. Einer wie viele. »Wir sind alle Khaled Said« heißt die Facebook-Seite, welche alle Details der Ermittlungen um den Tod des Bloggers öffentlich macht. Der Seiten-Administrator nennt sich »Schaheed – Märtyrer«, so wie der Getötete auch als Märtyrer bezeichnet wird. Im Sommer 2010 kennt fast niemand Wael Ghoneim, der sich hinter dem Pseudonym verbirgt. Das macht jedoch nichts, denn die Bewegung funktioniert darüber, dass sich alle angesprochen fühlen. »Als ich die Bilder von Khaled Said sah, da hatte ich das Gefühl, dass es keine Sicherheit mehr gibt. Wenn sie den nehmen, dann können sie genauso als nächstes mich oder meinen Bruder umbringen«, erzählt Aid Beschir. Er klickt auf »like« und schon gehört er dazu.
»Das Gute an Facebook ist auch, dass es wertfrei ist, gratis und demokratisch. Die Art zu diskutieren ist tolerant, da viele Diskussionsstränge nebeneinander existieren können. Man kann sich an einer bestehenden Diskussionskette beteiligen und einen Kommentar hinzufügen oder einen neuen Strang aufmachen, wenn man lieber über etwas anderes sprechen möchte«, beschreibt die Sozialwissenschaftlerin. Deswegen eigne sich Facebook so gut für politische Mobilisierung. »Die Diskussion hört auch nie auf. Wenn ich mich auslogge, dann geht es weiter, und wenn ich wieder online bin, kann ich wieder einsteigen«, sagt sie.
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