Wir wollen Freiheit
rufen sie den Sicherheitskräften zu. Da greift ein Mann zum Gewehr, lädt und schießt auf die Demonstranten. Man meint Maher al Assad zu erkennen, den Bruder des Präsidenten. Er gilt als besonders skrupellos und brutal und kommandiert eine ebensolche Eliteeinheit: die berüchtigte vierte Division. Sie ist es auch, die ab Anfang Juni den Krieg an die türkische Grenze trägt. Am 6. Juni berichtet das Staatsfernsehen, dass 120 Soldaten von bewaffneten Gangs in Dschisr al Schughur ermordet wurden. Bewohner der Stadt sagen, dass die Soldaten von ihren Kameraden hingerichtet wurden, weil sie sich geweigert hatten, auf unbewaffnete Demonstranten zu schießen. Der Tod der Soldaten dient als Vorwand für einen grausamen Vergeltungszug.
Während internationale Medien Flüchtlinge und desertierte Soldaten interviewen und Syrien immer stärker in die internationale Kritik gerät, sieht die Welt ganz anders aus, wenn man auf das syrische Staatsfernsehen umschaltet. Dort können die Zuschauer verfolgen, wie die tapfere Armee den vom Ausland gesteuerten Terrorbanden nachstellt, die in der Region ihr Unwesen treiben. Es werden gefasste Terroristen vorgeführt, die gestehen, Geld und Waffen aus dem Ausland bekommen zu haben. Am 14. Juni gibt es in Damaskus eine Großdemonstration: Mehrere Zehntausend sind gekommen, sie tragen eine gigantische syrische Fahne. »Alle Syrer mit Bewusstsein und Bildung müssen jetzt Verantwortung übernehmen, damit das Land nicht zerfällt«, sagt eine Studentin mit modischem Kopftuch und Sonnenbrille. Es sind Bilder wie vom Tahrir-Platz: Fröhliche, offensichtlich nicht ganz arme Menschen gehen auf die Straße. Für ihr Land. Allerdings lautet ihr Slogan nicht: »Wir wollen Freiheit!«, sondern: »Das Volk will Baschar al Assad!« Sie machen nicht |125| den Eindruck, als würde man sie dafür bezahlen, dass sie dies rufen. Ein paar Tage später wendet sich Baschar al Assad mit einer Rede an die Nation. Er verspricht, mit harter Hand gegen die ausländische Verschwörung vorzugehen und will zudem einen Nationalen Dialog beginnen.
Louay Hussein, ein bekannter Intellektueller, der wie Assad zur alewitischen Minderheit gehört, bemüht sich um einen Kompromiss. Er organisiert eine Versammlung der Opposition. Die
Muslimbrüder
dürfen zwar nicht kommen, das geht der Regierung nun doch zu weit, aber immerhin gibt es zum ersten Mal seit 60 Jahren ein Treffen von Oppositionellen in Damaskus. Louay Hussein wirbt für einen geordneten Übergang zur Demokratie: »Wir wollen, dass sich das Regime ändert, aber wir wollen nicht, dass es zusammenbricht«, sagt er. Ein Ende der Gewalt und ernsthafte Reformen fordert er. Dies ist auch seine Grundbedingung, um sich am Nationalen Dialog mit der Regierung zu beteiligen. Auch alle anderen Oppositionellen boykottieren schließlich Assads Gesprächsangebot. Mitte Juli ist keine Lösung in Sicht: Die Regierung Assad setzt immer größere Gewalt ein und lässt ihre Anhänger sogar die amerikanische und die französische Botschaft angreifen.
|126| 4. Die Revolution geht weiter – Ägypten im Frühling 2011
N ach dem Rücktritt Mubaraks feiert Ägypten mehrere Tage lang. Aus dem ganzen Land kommen die Menschen zum Tahrir-Platz. Kinder klettern auf Panzern, die Menschen machen Erinnerungsfotos, kaufen Popcorn und tanzen auf dem Platz.
Dazwischen sieht man immer mehr Jugendliche mit Mülltüten. Sie räumen die Reste der Barrikaden weg und fegen den Platz. Wo sie schon einmal dabei sind, malen sie auch die Zebrastreifen nach. Andere malen Liebeserklärungen an Ägypten an die Mauern. Schnell entwickelt sich daraus eine Mode und ganz Ägypten bekommt einen neuen Anstrich. »Wir sind so stolz auf unser Land. Es ist das schönste auf der ganzen Welt. Wir wollen, dass die Menschen sehen, dass wir nicht nur eine alte, sondern auch eine moderne Kulturnation sind«, sagt Sarah, eine 1 6-jährige Schülerin, die mit ihren Freundinnen in unserer Straße die Bordsteinkannte mit schwarzen und weißen Streifen bemalt. Sie hätten leider während der Revolution nicht auf den Tahrir-Platz gedurft, aber jetzt könnten sie auch etwas zur Revolution beitragen. Über das Malen können sie also quasi nachträglich noch der Revolution beitreten. Außerdem mache es Spaß und sie hätten schon viele Leute kennengelernt, strahlen die Schülerinnen.
Ägyptische Politiker sind voll des Lobes für die Jugend: »Das ist historisch einmalig: Die Jugend, die die Revolution gemacht hat,
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